Überblickskommentar 57
in den ersten beiden Büchern, sondern das Thema der Erkenntnis, der „Leiden-
schaft der Erkenntniss", die sich mit der Frage nach der „Wahrheit" verbindet.
Da diese Wahrheit nicht auf dem Wege objektivierenden Erkennens zu ermit-
teln ist, bleibt demjenigen, der nicht in einer agnostizistischen Skepsis resig-
niert, nur die radikale Subjektivierung. Es gibt demnach keine abschließbare
und stabilisierbare Erkenntnis und nicht einmal ein begründbares Interesse
am Erkennen und an der Wahrheit, sondern nur die unhintergehbare „Leiden-
schaft der Erkenntniss", die den Philosophen auszeichnet, von der er aber
auch gezeichnet ist - im ersten seiner Dionysos-Dithyramben wird N. vom
„Wahrheits-Wahnsinne" sprechen (KSA 6, 380, 11). Diese Leidenschaft der Er-
kenntnis treibt den Wahrheitssucher immer weiter ins Offene und Unbekannte.
Folgerichtig gipfelt das fünfte Buch abschließend mit dem vielzitierten Text
„Wir Luft-Schifffahrer des Geistes" (Μ 575). N. versteht hier das
Abenteuer des Erkennens als unstillbaren Drang ins Unendliche, als ein
„mächtiges Gelüste" (331, 24 f.) selbst auf die Gefahr, ja sogar auf die Ahnung
des Scheiterns hin. In der Geburt der Tragödie (KSA 1, 99, 1-5) hatte N. an
Lessings berühmtes Diktum erinnert, dass er sich, wenn Gott ihn vor die Wahl
zwischen der Wahrheit und der Suche nach der Wahrheit stellen würde, für
die Suche nach der Wahrheit entscheiden würde. Lessing hatte diese Option
mit Verweis auf die conditio humana begründet, weil die Wahrheit allein für
Gott sei; aber letztlich hatte er doch die Unabschließbarkeit der menschlichen
Wahrheitssuche und damit die Unabschließbarkeit des Erkenntnisprozesses
gemeint. N. transformiert diese aus einer aufgeklärten Selbstbescheidung re-
sultierende Haltung in ein romantisches Verlangen in die „Ferne", denn sein
aufklärerischer Freigeist ist selbst nur ein durch ein weiteres Stadium der Auf-
klärung - einer radikalisierten Aufklärung - hindurchgegangener Romantiker:
einer, der seine eigene Romantik zugleich immer schon durchschaut, ohne sie
doch aufheben zu können und zu wollen.
N. hat das fünfte Buch der Morgenröthe mit einem Rahmen versehen, in-
dem er den abschließenden Text „Wir Luft-Schifffahrer des Geistes"
in ein korrespondierendes Verhältnis zum ersten setzte. Mit diesem ersten Text
des fünften Buchs gelang ihm ein poeme en prose, das seiner immer wieder
anvisierten Synthese von Philosophie und Dichtung in seltener Weise ent-
spricht. Es steht unter dem Titel „Im grossen Schweigen" (259, 3). Das
dem damit angeschlagenen Thema entsprechende Leitmotiv ist die „ungeheure
Stummheit" der „Natur", die schweigen muss, weil sie „nicht reden kann", wie
es mit anaphorischem Nachdruck immer von Neuem heißt. Aus dem Schwei-
gen und der Stummheit der Natur resultiert ein bedrohliches Verstummen des
„Herzens" (und vice versa), weil es in sympathetischem Bezug (259, 18: „Mitge-
fühl"; 260, 4: „Mitleiden") zur Natur steht. Daraus folgt eine fundamentale
in den ersten beiden Büchern, sondern das Thema der Erkenntnis, der „Leiden-
schaft der Erkenntniss", die sich mit der Frage nach der „Wahrheit" verbindet.
Da diese Wahrheit nicht auf dem Wege objektivierenden Erkennens zu ermit-
teln ist, bleibt demjenigen, der nicht in einer agnostizistischen Skepsis resig-
niert, nur die radikale Subjektivierung. Es gibt demnach keine abschließbare
und stabilisierbare Erkenntnis und nicht einmal ein begründbares Interesse
am Erkennen und an der Wahrheit, sondern nur die unhintergehbare „Leiden-
schaft der Erkenntniss", die den Philosophen auszeichnet, von der er aber
auch gezeichnet ist - im ersten seiner Dionysos-Dithyramben wird N. vom
„Wahrheits-Wahnsinne" sprechen (KSA 6, 380, 11). Diese Leidenschaft der Er-
kenntnis treibt den Wahrheitssucher immer weiter ins Offene und Unbekannte.
Folgerichtig gipfelt das fünfte Buch abschließend mit dem vielzitierten Text
„Wir Luft-Schifffahrer des Geistes" (Μ 575). N. versteht hier das
Abenteuer des Erkennens als unstillbaren Drang ins Unendliche, als ein
„mächtiges Gelüste" (331, 24 f.) selbst auf die Gefahr, ja sogar auf die Ahnung
des Scheiterns hin. In der Geburt der Tragödie (KSA 1, 99, 1-5) hatte N. an
Lessings berühmtes Diktum erinnert, dass er sich, wenn Gott ihn vor die Wahl
zwischen der Wahrheit und der Suche nach der Wahrheit stellen würde, für
die Suche nach der Wahrheit entscheiden würde. Lessing hatte diese Option
mit Verweis auf die conditio humana begründet, weil die Wahrheit allein für
Gott sei; aber letztlich hatte er doch die Unabschließbarkeit der menschlichen
Wahrheitssuche und damit die Unabschließbarkeit des Erkenntnisprozesses
gemeint. N. transformiert diese aus einer aufgeklärten Selbstbescheidung re-
sultierende Haltung in ein romantisches Verlangen in die „Ferne", denn sein
aufklärerischer Freigeist ist selbst nur ein durch ein weiteres Stadium der Auf-
klärung - einer radikalisierten Aufklärung - hindurchgegangener Romantiker:
einer, der seine eigene Romantik zugleich immer schon durchschaut, ohne sie
doch aufheben zu können und zu wollen.
N. hat das fünfte Buch der Morgenröthe mit einem Rahmen versehen, in-
dem er den abschließenden Text „Wir Luft-Schifffahrer des Geistes"
in ein korrespondierendes Verhältnis zum ersten setzte. Mit diesem ersten Text
des fünften Buchs gelang ihm ein poeme en prose, das seiner immer wieder
anvisierten Synthese von Philosophie und Dichtung in seltener Weise ent-
spricht. Es steht unter dem Titel „Im grossen Schweigen" (259, 3). Das
dem damit angeschlagenen Thema entsprechende Leitmotiv ist die „ungeheure
Stummheit" der „Natur", die schweigen muss, weil sie „nicht reden kann", wie
es mit anaphorischem Nachdruck immer von Neuem heißt. Aus dem Schwei-
gen und der Stummheit der Natur resultiert ein bedrohliches Verstummen des
„Herzens" (und vice versa), weil es in sympathetischem Bezug (259, 18: „Mitge-
fühl"; 260, 4: „Mitleiden") zur Natur steht. Daraus folgt eine fundamentale