58 Morgenröthe
Gefährdung des dichtenden und philosophierenden Ichs: „Das Sprechen, ja
das Denken wird mir verhasst: höre ich denn nicht hinter jedem Worte den
Irrthum, die Einbildung, den Wahngeist lachen? Muss ich nicht meines Mitlei-
dens spotten? Meines Spottes spotten? - Oh Meer! Oh Abend! Ihr seid schlim-
me Lehrmeister! Ihr lehrt den Menschen aufhören, Mensch zu sein!" (260,
2-7) Aufgrund der Stummheit der Natur, eines furchtbaren, die Leere und das
Nichts signalisierenden „Schweigens", mit dem N. den alten, in der Romantik
zu besonderer Bedeutung erhobenen Topos der „sprechenden Natur" („natura
loquitur") konterkariert, wird alles absurd, was sich sagen und denken lässt,
weil es seine Verankerung im Natürlichen und damit auch im Menschlichen
verliert. Auf diese ultimative Selbstherausforderung am Anfang des fünften Bu-
ches antwortet der letzte Text: „Wir Luft-Schifffahrer des Geistes".
Darin reißt sich der Freigeist von aller Rückbindung an die naturhafte Bedingt-
heit des menschlichen Geistes los. Er fliegt - das ist das Leitmotiv - in eine
leere Unendlichkeit. Mit diesem Konzept ist aber die Selbstherausforderung
und Selbstinfragestellung des ersten Aphorismus nicht abgetan. Sie bleibt hin-
ter jedem Wort und jedem Denken subversiv wirksam, weil das sich von allem
ablösende Ich in ein leeres, bezugloses Phantasieren zu geraten droht, so dass
es „hinter jedem Worte den Irrthum, die Einbildung, den Wahngeist lachen"
zu hören glaubt. Später brachte N. diese Problematik im ersten seiner Dionysos-
Dithyramben auf den Nenner: „Nur Narr! Nur Dichter!" (KSA 6, 377)
Die Loslösung des Freigeists aus allen naturhaften Bindungen und Zusam-
menhängen hat nicht nur eine geistige, sondern auch eine menschliche Konse-
quenz: Einsamkeit. Dieses Schicksal der Einsamkeit, das Los des von seiner
Aufgabe Besessenen und seine Selbstverwirklichung, sein „Gefühl der Macht"
in dieser Besessenheit findenden Denkers reflektiert N. in einer ganzen Anzahl
von Texten im fünften Buch der Morgenröthe. Es hängt eng mit seiner „Leiden-
schaft der Erkenntniss" zusammen. Wie es in M 440 heißt, entsagt der freie
Geist der Welt nicht, weil er die Entsagung an sich hochschätzt, sondern weil
ihm die „Einsamkeit der vita contemplativa des Denkers" (269, 7 f.) ein inners-
ter Wunsch ist. Er entspringt dem Gefühl, es führe zum „Untergang seiner
selbst, in der vita practica ausharren zu müssen" (269, 9 f.). Aristoteles hatte
im 10. Buch der Nikomachischen Ethik die Theorie der Praxis vorgezogen und
ihr den höchsten Rang zugesprochen, da sie sich von jedweder nach außen
gerichteten Tätigkeit als das Beständigere unterscheide (1177a 21-22). Vor allem
aber lag ihm an der in der theoretischen Lebensform zu verwirklichenden „Au-
tarkie" (1177a 27-28). Wie die Unterscheidung zwischen theoretischer und prak-
tischer Lebensform übernimmt N. auch die Vorstellung der Autarkie und des
mit ihr gegebenen Glücks von Aristoteles. Er spricht von der Bewahrung des
Selbst und einer daraus entspringenden „Heiterkeit" (269, 12). Dass er in die-
Gefährdung des dichtenden und philosophierenden Ichs: „Das Sprechen, ja
das Denken wird mir verhasst: höre ich denn nicht hinter jedem Worte den
Irrthum, die Einbildung, den Wahngeist lachen? Muss ich nicht meines Mitlei-
dens spotten? Meines Spottes spotten? - Oh Meer! Oh Abend! Ihr seid schlim-
me Lehrmeister! Ihr lehrt den Menschen aufhören, Mensch zu sein!" (260,
2-7) Aufgrund der Stummheit der Natur, eines furchtbaren, die Leere und das
Nichts signalisierenden „Schweigens", mit dem N. den alten, in der Romantik
zu besonderer Bedeutung erhobenen Topos der „sprechenden Natur" („natura
loquitur") konterkariert, wird alles absurd, was sich sagen und denken lässt,
weil es seine Verankerung im Natürlichen und damit auch im Menschlichen
verliert. Auf diese ultimative Selbstherausforderung am Anfang des fünften Bu-
ches antwortet der letzte Text: „Wir Luft-Schifffahrer des Geistes".
Darin reißt sich der Freigeist von aller Rückbindung an die naturhafte Bedingt-
heit des menschlichen Geistes los. Er fliegt - das ist das Leitmotiv - in eine
leere Unendlichkeit. Mit diesem Konzept ist aber die Selbstherausforderung
und Selbstinfragestellung des ersten Aphorismus nicht abgetan. Sie bleibt hin-
ter jedem Wort und jedem Denken subversiv wirksam, weil das sich von allem
ablösende Ich in ein leeres, bezugloses Phantasieren zu geraten droht, so dass
es „hinter jedem Worte den Irrthum, die Einbildung, den Wahngeist lachen"
zu hören glaubt. Später brachte N. diese Problematik im ersten seiner Dionysos-
Dithyramben auf den Nenner: „Nur Narr! Nur Dichter!" (KSA 6, 377)
Die Loslösung des Freigeists aus allen naturhaften Bindungen und Zusam-
menhängen hat nicht nur eine geistige, sondern auch eine menschliche Konse-
quenz: Einsamkeit. Dieses Schicksal der Einsamkeit, das Los des von seiner
Aufgabe Besessenen und seine Selbstverwirklichung, sein „Gefühl der Macht"
in dieser Besessenheit findenden Denkers reflektiert N. in einer ganzen Anzahl
von Texten im fünften Buch der Morgenröthe. Es hängt eng mit seiner „Leiden-
schaft der Erkenntniss" zusammen. Wie es in M 440 heißt, entsagt der freie
Geist der Welt nicht, weil er die Entsagung an sich hochschätzt, sondern weil
ihm die „Einsamkeit der vita contemplativa des Denkers" (269, 7 f.) ein inners-
ter Wunsch ist. Er entspringt dem Gefühl, es führe zum „Untergang seiner
selbst, in der vita practica ausharren zu müssen" (269, 9 f.). Aristoteles hatte
im 10. Buch der Nikomachischen Ethik die Theorie der Praxis vorgezogen und
ihr den höchsten Rang zugesprochen, da sie sich von jedweder nach außen
gerichteten Tätigkeit als das Beständigere unterscheide (1177a 21-22). Vor allem
aber lag ihm an der in der theoretischen Lebensform zu verwirklichenden „Au-
tarkie" (1177a 27-28). Wie die Unterscheidung zwischen theoretischer und prak-
tischer Lebensform übernimmt N. auch die Vorstellung der Autarkie und des
mit ihr gegebenen Glücks von Aristoteles. Er spricht von der Bewahrung des
Selbst und einer daraus entspringenden „Heiterkeit" (269, 12). Dass er in die-