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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0074
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Überblickskommentar 59

sem Zusammenhang allerdings die notwendige „Einsamkeit" betont und mit
der Rettung des auf seine Autarkie bedachten einsamen Denkers den Ent-
schluss zum Risiko verbindet (269, ll f.: „So springt er in sein Wasser, so
gewinnt er seine Heiterkeit"), lässt eine Gefährdung erkennen, die der ver-
gleichsweise nüchternen Abwägung des Aristoteles fremd ist.
Die Leidenschaft der Erkenntnis nennt N. in dem für dieses Hauptthema
wohl wichtigsten Text Μ 429 die „neue Leidenschaft". In der Geburt der
Tragödie hatte er die „Erkenntniss" mitsamt der Theorie und dem „theoreti-
schen Menschen" verdammt, weil er die Erkenntnis als lebensfeindlich wertete
und dagegen in der Kunst die Rettung für das „Leben" erhoffte. Deshalb wollte
er sogar um den Preis des sacrificium intellectus für die Kunst leben (eine weit-
gehende Rückwendung zu dieser frühen Position verrät FW 107). Dies war frei-
lich eine von vornherein unterhöhlte, da vom Bewusstsein des „Wahns" beglei-
tete Leidenschaft. Nun aber expandiert die zuvor so vehement abgewertete Er-
kenntnis - wie schon in MA I 292 (KSA 2, 235, 29-237, 16) - zur „neuen
Leidenschaft", weil sie nicht mehr in Gegensatz zum Lebenstrieb gerät, son-
dern selbst ein Lebenstrieb ist: „unser Trieb zur Erkenntniss ist zu stark,
als dass wir noch das Glück ohne Erkenntniss oder das Glück eines starken
festen Wahnes zu schätzen vermöchten [...] Die Unruhe des Entdeckens und
Errathens ist uns so reizvoll und unentbehrlich geworden, wie die unglückliche
Liebe dem Liebenden wird [...] Die Erkenntniss hat sich in uns zur Leidenschaft
verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt" (264, 18-28). N. beschließt diesen
zentralen Text mit einem Bekenntnis zur „Leidenschaft der Erkenntniss" (265,
2), weil Leidenschaft als höchste Lebensintensität erfahren wird: „wenn die
Menschheit nicht an einer Leidenschaft zu Grunde geht, so wird sie an
einer Schwäche zu Grunde gehen: was will man lieber? Diess ist die Haupt-
frage. Wollen wir für sie ein Ende im Feuer und Licht oder im Sande? - " (265,
7-11)
N. geht es hier nicht nur um die Leidenschaft des Erkennens, die er auch
in FW 249 pointiert, sondern überdies um Leidenschaft an sich, weil er Leiden-
schaft, selbst wenn sie wahnhaft, weil illusionsgenährt und wirklichkeitsfremd
sein sollte, als lebensmächtige Steigerung des Daseins betrachtet. Darin folgt er
Stendhal, wie viele Notate aus der Entstehungszeit der Morgenröthe erkennen
lassen. Mit Stendhal bewundert er die Leidenschaft, die Fähigkeit zur „Passi-
on", auch wenn sie immer schon im Zwielicht eines desillusionierten Bewusst-
seins erscheint, als besondere Begabung der Italiener, deren südliches Tempe-
rament N. dem deutsch-langweiligen „Gemüth" entgegensetzt. Aus einem der
nachgelassenen Notate aus der Entstehungszeit der Morgenröthe geht hervor,
dass er die Leidenschaft, die „Passion", als Ausdruck einer Lebensintensität
versteht, die das „Gefühl der Macht" zum Höchsten steigert. Er bewundert die-
se Lebensintensität als die Glorie des starken Individuums. Damit schließt er
 
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