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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0076
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Überblickskommentar 61

nennen Dieses nah und Jenes fern, Dieses gross und Jenes klein, Dieses hart
und Jenes weich [...] es sind Alles, Alles Irrthümer an sich!" (110, 9-14). Es
sind die „Gewohnheiten unserer Sinne", welche „Irrthümer" produzieren: „Die
Gewohnheiten unserer Sinne haben uns in Lug und Trug der Empfindung ein-
gesponnen: diese wieder sind die Grundlagen aller unserer Urtheile und ,Er-
kenntnisse', - es giebt durchaus kein Entrinnen, keine Schlupf- und Schleich-
wege in die wirkliche Welt!" (110, 27-31) Die Problematik dieser Aussagen
liegt in der - an Kants ,Ding an sich' erinnernden - Annahme, es müsse eine
,Wahrheit an sich' oder eine ,Wirklichkeit an sich' geben, wie ex negativo auch
die Formulierung „Irrthümer an sich" verrät. Was aber ist ein Irrtum „an sich"?
Erneut stellt N. in M 550 die Frage nach dem Verhältnis von Erkenntnis
und Wirklichkeit, nun allerdings unter einem anderen Aspekt, den er mit dem
Stichwort „Erkenntniss und Schönheit" (320, 6) signalisiert. Er geht
davon aus, dass die Menschen sich daran gewöhnt haben, nur dasjenige als
„schön" zu bewerten, was sie in der Sphäre des „Scheins" finden. Wenn er von
„Werken der Einbildung" spricht (320, 8), meint er offenkundig Kunstwerke.
Anschließend interpretiert er die Hinwendung zum schönen Schein nicht nur
als „Verlassen der Wirklichkeit" (320, 17), sondern behauptet, die Menschen,
welche dem schönen Schein huldigen, „meinen, die Wirklichkeit sei häßlich"
(320, 18 f.). Dieser Rückschluss ist ebenso problematisch wie die Konstruktion
des Gegensatzes von „Schein" und „Wirklichkeit", und dies schon deshalb,
weil die Erkenntnis der „Wirklichkeit" nach N.s eigenem Befund nicht möglich
ist. Ein Hintergrund für N.s Aussage ist die immer noch nachwirkende Philoso-
phie Schopenhauers, der dem „Willen" als der negativen Grundverfassung des
Daseins die „Vorstellung" entgegensetzte, in deren Sphäre die wenigstens tem-
porär vom „Willen" erlösende schöne Kunst (als Gestaltung der Ideen) möglich
sei. Die Rede vom spannungsreichen Verhältnis von „Schönheit" und „Wirk-
lichkeit" ist aber auch Reflex der damals aktuellen Realismus-Debatte. Wäh-
rend die Naturalisten gerade die „hässlichen" Seiten des Lebens in den Vorder-
grund stellten, weil sie die „Wirklichkeit", die sie von vornherein vor allem
aufgrund der sozialen Verhältnisse negativ bewerteten, nicht mit einem schö-
nen Schein vergolden wollten, und während die Realisten mindestens eine illu-
sionslose Darstellung der Wirklichkeit erstrebten, ließen es sich die Vertreter
des sog. poetischen Realismus angelegen sein, die Wirklichkeit zwar nicht
ganz und gar zu überhöhen, aber doch bis zu einem gewissen Grade mit dem
,poetischen' Schein des Schönen zu umgeben. „Verklärung" ist deshalb ein
Schlüsselbegriff von Autoren des poetischen Realismus, etwa bei Fontane. N.
nahm vor allem Gottfried Keller zur Kenntnis. In seiner zu den Züricher Novel-
len gehörenden Erzählung Hadlaub lässt Gottfried Keller den Erzähler pro-
grammatisch formulieren, „daß das Schöne schöner sein sollte, als das wirkli-
che Leben" (Keller 1989, Bd. 5, 77).
 
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