62 Morgenröthe
N. indes verschiebt die Erörterung des Themas ,Erkenntnis und Schönheit'
in die Sphäre eines subjektiven Gefühls, das sich mit dem Prozess des Erken-
nens verbindet. Wiederholt spricht er vom „Glück der Erkennenden" (320, 24)
und schreibt diesem Glücksgefühl nun die Kraft zu, die „Schönheit der Welt"
zu mehren. Sodann versucht er, in einem fernen Reflex von Kants Unterschei-
dung einer freien Schönheit (pulchritudo vaga) und einer anhängenden Schön-
heit (pulchritudo adhaerens) (Kritik der Urteilskraft, § 16), die poetisch-ästheti-
sche „Schönheit" als eine bloß äußerliche zu werten, dagegen die durch das
Glücksgefühl des Erkennenden zu erreichende als eine substantielle Schön-
heit: „die Erkenntniss legt ihre Schönheit nicht nur um die Dinge, sondern,
auf die Dauer, in die Dinge" (320, 25-27). Was sich hinter der behaupteten
„Schönheit" der Erkenntnis verbirgt, ist unklar - der Kontext legt nahe, dass
damit das Glücksgefühl des Erkennenden gemeint ist. Stendhal nannte Schön-
heit ein Glücksversprechen, „une promesse de bonheur" (N. zitiert dies in der
Genealogie der Moral, KSA 5, 347). Problematisch bleibt die Rede von den „Din-
gen".
Wenn N. in eine argumentative Verlegenheit gerät oder keine Evidenz er-
reichen kann, greift er gern entweder zu einer halb suspendierenden, halb insi-
nuierenden Frageform oder er beruft sich auf eine Zukunft, in der das Behaup-
tete - das sich damit als prophetische Ankündigung erweisen soll - erst evi-
dent werde. Letzteres gilt schon für die Frühschriften; in dem hier erörterten
Text zeigt es sich in der unmittelbar angefügten Aussage: „möge die zukünftige
Menschheit für diesen Satz ihr Zeugniss abgeben!" (320, 27 f.)
Gleich im folgenden Text setzt N. wieder auf die „Zukunft" - wie schon in
der Geburt der Tragödie, wo er das auf „Zukunft" gerichtete „Glauben" und
„Hoffen" beschwört, und wie in der zweiten der UB IV: Richard Wagner in Bay-
reuth, deren Schlusspartie programmatisch den „Menschen der Zukunft" (KSA
1, 505, 6) gilt. Μ 551 handelt „Von zukünftigen Tugenden" (321, 10).
Darin konzipiert N. die Einheit des philosophischen Denkens und der dichteri-
schen Begabung als übereinstimmende prophetische Ausrichtung auf das Zu-
künftige. Im Hinblick auf die Philosophen und offenkundig als Programm für
sein eigenes Philosophieren stellt er die rhetorisch-hypothetische Frage: „Viel-
leicht, dass es eine Zukunft giebt, wo dieser Muth des Denkens so angewach-
sen sein wird, dass er als der äusserste Hochmuth sich über den Menschen
und Dingen fühlt, - wo der Weise als der am meisten Muthige sich selber und
das Dasein am meisten unter sich sieht?" (321, 22-26) Hier verbindet sich die
Hoffnung auf die Zukunftsfähigkeit des Denkers mit der Vorstellung einer Erhe-
bung über alles Gegenwärtige, über das reale Leben schlechthin, auch über
sich selbst. Damit kündigt sich bereits der Gedanke des Übermenschen an. In
N.s späteren Werken mündet die Rede von der „Zukunft" häufig in diejenige
N. indes verschiebt die Erörterung des Themas ,Erkenntnis und Schönheit'
in die Sphäre eines subjektiven Gefühls, das sich mit dem Prozess des Erken-
nens verbindet. Wiederholt spricht er vom „Glück der Erkennenden" (320, 24)
und schreibt diesem Glücksgefühl nun die Kraft zu, die „Schönheit der Welt"
zu mehren. Sodann versucht er, in einem fernen Reflex von Kants Unterschei-
dung einer freien Schönheit (pulchritudo vaga) und einer anhängenden Schön-
heit (pulchritudo adhaerens) (Kritik der Urteilskraft, § 16), die poetisch-ästheti-
sche „Schönheit" als eine bloß äußerliche zu werten, dagegen die durch das
Glücksgefühl des Erkennenden zu erreichende als eine substantielle Schön-
heit: „die Erkenntniss legt ihre Schönheit nicht nur um die Dinge, sondern,
auf die Dauer, in die Dinge" (320, 25-27). Was sich hinter der behaupteten
„Schönheit" der Erkenntnis verbirgt, ist unklar - der Kontext legt nahe, dass
damit das Glücksgefühl des Erkennenden gemeint ist. Stendhal nannte Schön-
heit ein Glücksversprechen, „une promesse de bonheur" (N. zitiert dies in der
Genealogie der Moral, KSA 5, 347). Problematisch bleibt die Rede von den „Din-
gen".
Wenn N. in eine argumentative Verlegenheit gerät oder keine Evidenz er-
reichen kann, greift er gern entweder zu einer halb suspendierenden, halb insi-
nuierenden Frageform oder er beruft sich auf eine Zukunft, in der das Behaup-
tete - das sich damit als prophetische Ankündigung erweisen soll - erst evi-
dent werde. Letzteres gilt schon für die Frühschriften; in dem hier erörterten
Text zeigt es sich in der unmittelbar angefügten Aussage: „möge die zukünftige
Menschheit für diesen Satz ihr Zeugniss abgeben!" (320, 27 f.)
Gleich im folgenden Text setzt N. wieder auf die „Zukunft" - wie schon in
der Geburt der Tragödie, wo er das auf „Zukunft" gerichtete „Glauben" und
„Hoffen" beschwört, und wie in der zweiten der UB IV: Richard Wagner in Bay-
reuth, deren Schlusspartie programmatisch den „Menschen der Zukunft" (KSA
1, 505, 6) gilt. Μ 551 handelt „Von zukünftigen Tugenden" (321, 10).
Darin konzipiert N. die Einheit des philosophischen Denkens und der dichteri-
schen Begabung als übereinstimmende prophetische Ausrichtung auf das Zu-
künftige. Im Hinblick auf die Philosophen und offenkundig als Programm für
sein eigenes Philosophieren stellt er die rhetorisch-hypothetische Frage: „Viel-
leicht, dass es eine Zukunft giebt, wo dieser Muth des Denkens so angewach-
sen sein wird, dass er als der äusserste Hochmuth sich über den Menschen
und Dingen fühlt, - wo der Weise als der am meisten Muthige sich selber und
das Dasein am meisten unter sich sieht?" (321, 22-26) Hier verbindet sich die
Hoffnung auf die Zukunftsfähigkeit des Denkers mit der Vorstellung einer Erhe-
bung über alles Gegenwärtige, über das reale Leben schlechthin, auch über
sich selbst. Damit kündigt sich bereits der Gedanke des Übermenschen an. In
N.s späteren Werken mündet die Rede von der „Zukunft" häufig in diejenige