74 Morgenröthe
Vollstrecker sich ein andrer Jünger Rousseau's fühlte und bekannte, nämlich Ro-
bespierre, „de fonder sur la terre l'empire de la sagesse, de la justice et de la
vertu" (Rede vom 7. Juni 1794).] Kant war Zeit seines Lebens ein Verehrer Rous-
seaus. Das einzige Gemälde in seinem Haus war ein Rousseau-Bildnis. Dass
N. Rousseau als „Moral-Tarantel" bezeichnet, findet einen Anhaltspunkt nicht
zuletzt im Hinblick auf die fundamentale Bedeutung des von N. bekämpften
Mitleids in Rousseaus Discours sur l'origine et les fondements de l'inegalite par-
mi les hommes, vor allem aber in denjenigen Werken Rousseaus, in denen er
die „Tugend" (la vertu) preist. Er knüpfte damit an die altrömische „virtus" und
besonders an die rigorosen Moralforderungen der römischen Stoa an. Robes-
pierre, durch den die jakobinische Schreckensherrschaft („la terreur") wäh-
rend der Französischen Revolution ihren Höhepunkt und zugleich ihren Um-
schlagspunkt erreichte, wollte die von ihm propagierte Herrschaft republikani-
scher „Tugend" durch den Terror herbeiführen. N. zitiert Robespierre („auf der
Erde das Reich der Weisheit, der Gerechtigkeit und der Tugend zu gründen";
Scherer 1885, Bd. VIII, 79) nach dem Werk von Edmond Scherer: Etudes sur la
litterature contemporaine (1885).
15, 4-9 Luther [...] der es einmal [...] seinen Freunden zu Gemüthe führte: „wenn
man durch Vernunft es fassen könnte, wie der Gott gnädig und gerecht sein kön-
ne, der so viel Zorn und Bosheit zeigt, wozu brauchte man dann den Glau-
ben?"] N. zitiert diese Äußerung Luthers mit einigen kleinen Änderungen, die
auf den lateinisch beigegebenen Originaltext Luthers zurückgehen, aus dem
von ihm intensiv studierten und annotierten Werk von William Edward Hartpo-
le Lecky: Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa
(1873): „Wenn ich durch die Vernunft begreifen könnte, wie der Gott gnädig
und gerecht sein kann, welcher so vielen Zorn und Bosheit zeigt, dann brauch-
te ich den Glauben nicht" (Lecky 1873, Bd. 1, 301). Lecky greift auf Luthers
Schrift De servo arbitrio (Pars prima, sectio 23) zurück: „Si igitur possem ulla
ratione comprehendere quomodo is Deus misericors et justus, qui tantam iram
et iniquitatem ostendit, non esset opus fidei". Diese Luther-Worte stehen in
einem (von Lecky ebenfalls zitierten) Zusammenhang, aus dem hervorgeht,
dass Luther sich mit seiner Schrift gegen die Abhandlung De libero arbitrio
des Erasmus von Rotterdam wendet. Die folgenden Ausführungen N.s über die
vorgeblich pessimistische „deutsche Logik" (15, 14), die mit Luther begonnen
habe, sind historisch fragwürdig, da sich Luther (schärfer noch Calvin) an der
Prädestinationslehre des Augustinus orientiert, wie auch aus der Darstellung
Leckys hervorgeht. Indem N. Luther zum „grossen Pessimisten" (15, 5) erklärt,
versucht er, diesen einer spezifisch deutschen pessimistischen Mentalität zuzu-
ordnen, während es sich doch um eine vor allem von Augustinus übernomme-
ne altkirchliche Lehre handelt.
Vollstrecker sich ein andrer Jünger Rousseau's fühlte und bekannte, nämlich Ro-
bespierre, „de fonder sur la terre l'empire de la sagesse, de la justice et de la
vertu" (Rede vom 7. Juni 1794).] Kant war Zeit seines Lebens ein Verehrer Rous-
seaus. Das einzige Gemälde in seinem Haus war ein Rousseau-Bildnis. Dass
N. Rousseau als „Moral-Tarantel" bezeichnet, findet einen Anhaltspunkt nicht
zuletzt im Hinblick auf die fundamentale Bedeutung des von N. bekämpften
Mitleids in Rousseaus Discours sur l'origine et les fondements de l'inegalite par-
mi les hommes, vor allem aber in denjenigen Werken Rousseaus, in denen er
die „Tugend" (la vertu) preist. Er knüpfte damit an die altrömische „virtus" und
besonders an die rigorosen Moralforderungen der römischen Stoa an. Robes-
pierre, durch den die jakobinische Schreckensherrschaft („la terreur") wäh-
rend der Französischen Revolution ihren Höhepunkt und zugleich ihren Um-
schlagspunkt erreichte, wollte die von ihm propagierte Herrschaft republikani-
scher „Tugend" durch den Terror herbeiführen. N. zitiert Robespierre („auf der
Erde das Reich der Weisheit, der Gerechtigkeit und der Tugend zu gründen";
Scherer 1885, Bd. VIII, 79) nach dem Werk von Edmond Scherer: Etudes sur la
litterature contemporaine (1885).
15, 4-9 Luther [...] der es einmal [...] seinen Freunden zu Gemüthe führte: „wenn
man durch Vernunft es fassen könnte, wie der Gott gnädig und gerecht sein kön-
ne, der so viel Zorn und Bosheit zeigt, wozu brauchte man dann den Glau-
ben?"] N. zitiert diese Äußerung Luthers mit einigen kleinen Änderungen, die
auf den lateinisch beigegebenen Originaltext Luthers zurückgehen, aus dem
von ihm intensiv studierten und annotierten Werk von William Edward Hartpo-
le Lecky: Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa
(1873): „Wenn ich durch die Vernunft begreifen könnte, wie der Gott gnädig
und gerecht sein kann, welcher so vielen Zorn und Bosheit zeigt, dann brauch-
te ich den Glauben nicht" (Lecky 1873, Bd. 1, 301). Lecky greift auf Luthers
Schrift De servo arbitrio (Pars prima, sectio 23) zurück: „Si igitur possem ulla
ratione comprehendere quomodo is Deus misericors et justus, qui tantam iram
et iniquitatem ostendit, non esset opus fidei". Diese Luther-Worte stehen in
einem (von Lecky ebenfalls zitierten) Zusammenhang, aus dem hervorgeht,
dass Luther sich mit seiner Schrift gegen die Abhandlung De libero arbitrio
des Erasmus von Rotterdam wendet. Die folgenden Ausführungen N.s über die
vorgeblich pessimistische „deutsche Logik" (15, 14), die mit Luther begonnen
habe, sind historisch fragwürdig, da sich Luther (schärfer noch Calvin) an der
Prädestinationslehre des Augustinus orientiert, wie auch aus der Darstellung
Leckys hervorgeht. Indem N. Luther zum „grossen Pessimisten" (15, 5) erklärt,
versucht er, diesen einer spezifisch deutschen pessimistischen Mentalität zuzu-
ordnen, während es sich doch um eine vor allem von Augustinus übernomme-
ne altkirchliche Lehre handelt.