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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0093
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78 Morgenröthe

nicht mehr an den tradierten und konventionalisierten Moralvorstellungen
festhält, sondern sie als Illusionen durchstößt. In einem Brief an Carl Fuchs
vom 29. Juli 1888 bescheinigt N. dem Immoralisten „die bisher höchsterreichte
Form der intellektuellen Rechtschaffenheit', welche die Moral als Illusion be-
handeln darf, nachdem sie selbst Instinkt und Unvermeidlichkeit
geworden ist" (KSB 8/KGB III/5, Nr. 1075, S. 375, Z. 59-62). Das „Etwas von
Wahrheit" definiert er demnach als einen unbedingten Wahrheitstrieb, der sei-
ne ,Moralität' in der „intellektuellen Rechtschaffenheit" hat. Den - morali-
schen! - Begriff der Rechtschaffenheit nimmt N. in der Phrenesie von Ecce
homo ausschließlich für sich in Anspruch: Alle anderen deutschen Philoso-
phen, eingeschlossen Kant, Fichte, Schelling, Hegel und Schopenhauer be-
zeichnet er als „Falschmünzer" und fügt hinzu: „sie sollen nie die Ehre haben,
dass der erste rechtschaffne Geist in der Geschichte des Geistes, der Geist,
in dem die Wahrheit zu Gericht kommt über die Falschmünzerei von vier Jahr-
tausenden, mit dem deutschen Geiste in Eins gerechnet wird" (KSA 6, 361, 3-
9).
Mit der Paradoxie, dass der Moral aus Moralität das Vertrauen gekündigt
wird, signalisiert N. erstens die Unaufhebbarkeit des moralischen Anspruchs,
zweitens, dass er alle bisherige „Moral" als vorurteilshaft und illusionär zu-
gunsten einer tiefer gründenden, anthropologisch zu verstehenden ,eigentli-
chen' „Moralität" überschreitet, die aber zu keinem neuen ,moralischen' Stand-
punkt führt, sondern in einen grenzenlosen ,objektiven' Prozess der „Selbst-
aufhebung der Moral" (16, 33) einmündet, welcher den permanenten
Selbstaufhebungen N.s entspricht. In den folgenden Ausführungen allerdings
relativiert N. diesen anthropologischen Horizont wieder, indem er historisie-
rend argumentiert: Er sieht in der neuen Radikalität, in der sich die Wider-
sprüchlichkeit von Moralität und Immoralismus als eine nur scheinbare auf-
löst, immer noch als eine späte Folge des ,moralischen Erbes'. Alles erscheint
als ein spätzeitliches, epigonales ,Noch': „Aber es ist kein Zweifel, auch zu uns
noch [!] redet ein ,du sollst', auch wir noch [!] gehorchen einem strengen Geset-
ze über uns, - und dies ist die letzte Moral, die sich auch uns noch [!] hörbar
macht, die auch wir noch [!] zu leben wissen, hier, wenn irgend worin, sind
auch wir noch [!] Menschen des Gewissens: dass wir nämlich nicht wie-
der zurückwollen in Das, was uns als überlebt und morsch gilt [...] allein als
Menschen dieses Gewissens fühlen wir uns noch [!] verwandt mit der deut-
schen Rechtschaffenheit und Frömmigkeit von Jahrtausenden, wenn auch als
deren fragwürdigste und letzte Abkömmlinge, wir Immoralisten, wir Gottlosen
von heute, ja sogar, in gewissem Verstände, als deren Erben" (16, 7-29). Ob-
wohl N. hier noch im Bewusstsein, dass der Immoralismus ein zeitgenössisch
aktuelles Phänomen ist, „wir Immoralisten" sagt, erklärt er später, in Ecce
 
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