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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0095
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80 Morgenröthe

Kontinuum dieser Geschichte des „deutschen Geistes" ein, indem er mit der
Erinnerung an Hegels „berühmten realdialektischen Grundsatz" die Schluss-
folgerung wagt: „wir [d. h.: wir Deutschen] sind eben, sogar bis in die Logik
hinein, Pessimisten" (15, 21 f.). In diesem Versuch, ein deutsches Kontinuum
des Pessimismus zu konstruieren, gibt es eine große, aussagekräftige Lücke:
N. verschweigt Schopenhauer, den einzigen Philosophen, der programmatisch
Pessimist war und auf diesen Pessimismus hin sein ganzes Werk anlegte. Wa-
rum verschweigt ihn N., statt mit ihm seine Ausführungen zur pessimistischen
deutschen Tradition gipfeln zu lassen? Aus dem weiteren Duktus, der sein Ziel
am Ende des 4. Kapitels erreicht, dort, wo N. als Sprachrohr der Immoralisten
(„wir Immoralisten") figuriert, sieht er sich selbst, rhetorisch eingehüllt in ein
„wir" und „uns", als „Vollstrecker" des verneinenden „pessimistischen Wil-
lens". Damit beansprucht er die Rolle des finalen Denkers in der Geschichte
des Pessimismus und mithin die Rolle des Vollenders der Geschichte des von
ihm im Sinne dieses Pessimismus interpretierten „deutschen Geistes".
Um aber doch gegenüber Schopenhauer, ohne diesen zu nennen, einen
gewissen Abstand halten zu können, schlägt N. zwei Volten: Während Scho-
penhauer seinen Pessimismus bis zum nihilistischen Ende mit finsterer Uner-
bittlichkeit darstellt, interpretiert N. den pessimistischen Willen zur Selbstver-
neinung als subjektive Mutprobe und sogar als eine - wenn auch selbstzerstö-
rerische - „Lust". Die Mutprobe ergibt sich daraus, dass der eigentlich zu
fürchtende Blick in den Abgrund eines pessimistischen Nihilismus einen philo-
sophischen Heldenmut herausfordert, „der sich davor nicht fürchtet" (16, 31).
Schon in seinem Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Mu-
sik hatte N. das Märchen der Brüder Grimm Von einem der auszog, das Fürchten
zu lernen als Parabel für die dem pessimistischen Philosophen notwendige
Furchtlosigkeit herangezogen; später, in UB IV: Richard Wagner in Bayreuth
(KSA 1, 508 f.), hatte er die Gestalt des Drachentöters Siegfried aus Wagners
Ring des Nibelungen als repräsentativen tragischen ,Helden' des Pessimismus
interpretiert, der vor der Furchtbarkeit des Daseins nicht zurückschreckt und
eben deshalb den Typus des neuen Menschen verkörpere. In mehreren Texten
der Morgenröthe hatte er das Festhalten an unhaltbar gewordenen Moralvor-
stellungen als Symptom der Furcht angesichts der Konsequenzen einer Absage
an derartige Moralvorstellungen gedeutet. Und noch in der Fröhlichen Wissen-
schaft spielt dieser Gedanke eine zentrale Rolle: So ist das fünfte Buch der
Fröhlichen Wissenschaft überschrieben „Wir Furchtlosen".
Überboten wird diese Imagination vom heldenmütig pessimistischen und
nihilistischen Philosophen, der sich „davor nicht fürchtet, sich selbst zu ver-
neinen", durch den Zusatz, dass dieser „mit Lust verneint!" N. überträgt Scho-
penhauers nihilistisches Wunschziel - dieser exponiert als letztes Wort seines
 
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