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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0096
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Stellenkommentar Vorrede, KSA 3, S. 17 81

Hauptwerks emphatisch das „Nichts" - auf die „Selbstaufhebung der Moral".
Seine Vorstellung der Selbstaufhebung verbindet sich, anders als bei Schopen-
hauer, mit ,dionysischer' Selbstberauschung: darin liegt die von N. betonte
„Lust". Noch deutlicher wird dies gegen Ende von Ecce homo: „Ich kenne die
Lust am Vernichten in einem Grade, die meiner Kraft zum Vernichten
gemäss ist, - in Beidem gehorche ich meiner dionysischen Natur" (KSA 6, 366,
29-31). Dennoch konzipiert N. die Selbstaufhebung der Moral als ein überindi-
viduelles Geschehen, weil es einer geschichtlichen Notwendigkeit folgt, und
zwar so sehr, dass die Philosophen des Immoralismus nur noch Medium dieser
geschichtlichen Notwendigkeit sein können. Dies besagt die Formulierung,
dass die Selbstaufhebung der Moral sich [!] „in uns vollzieht".
Das abschließende 5. Kapitel der Vorrede führt den Gedankengang nicht
weiter, sondern gibt eine zur Lektüre überleitende Lese-Anweisung.
17, 10-11 Man ist nicht umsonst Philologe gewesen] N. erinnert hier an sein
Studium und seinen Beruf als Professor der Klassischen Philologie an der Uni-
versität Basel sowie als Lehrer am dortigen Pädagogium. Sein Studium hatte
er 1864 begonnen, nach dessen Abschluss übte er seinen Beruf bis 1879 aus.
17, 33 Ruta bei Genua] In Ruta Ligura, einem Küstenort südöstlich von Ge-
nua, hielt sich N. immer wieder auf. N. notierte im Frühjahr 1880, als er der
Vorstufe zur Morgenröthe noch den Titel L'Ombra di Venezia gab, folgen-
de Vorrede, in der er einer Anwandlung von Selbstinfragestellung, ja pietisti-
scher Selbstzerknirschung Ausdruck gibt:
„Als ich jüngst den Versuch machte, meine älteren Schriften, die ich ver-
gessen hatte, kennen zu lernen, erschrak ich über ein gemeinsames Merkmal
derselben: sie sprechen die Sprache des Fanatismus. Fast überall, wo in ihnen
die Rede auf Andersdenkende kommt, macht sich jene blutige Art zu lästern
und jene Begeisterung in der Bosheit bemerklich, welche die Abzeichen des
Fanatismus sind, - häßliche Abzeichen, um derentwegen ich diese Schriften
zu Ende zu lesen nicht ausgehalten hätte, wäre der Verfasser mir nur etwas
weniger bekannt gewesen. Der Fanatismus verdirbt den Charakter, den Ge-
schmack und zuletzt auch die Gesundheit: und wer diesen dreien zugleich wie-
der von Grund aus aufhelfen will, muß sich auf eine langwierige Cur gefaßt
machen.
Nachdem ich so viel und dazu nicht das Erbaulichste von mir gesagt
habe - wie es die Sitte der Vorrede zwar nicht anräth, aber doch erlaubt - darf
ich wenigstens hoffen damit erreicht zu haben, daß meine neuesten Gedanken,
welche ich im vorliegenden Buche mittheile, nicht ohne Vorsicht gelesen wer-
den" (3[1], KSA 9, 47, 5-23).
Diese ursprüngliche Vorrede blieb ebenso wie spätere ähnliche Texte un-
veröffentlicht.
 
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