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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0110
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Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 26 95

„Wahnsinn" erinnert, seine Bekehrung erfahren hatte. Diesen Übergang, des-
sen Ambivalenz N. mit dem Begriff des „Zweifels" bezeichnet, evoziert er in
personaler Rede-Fiktion: „Der Zweifel frisst mich auf, ich habe das Gesetz ge-
tödtet, das Gesetz ängstigt mich wie ein Leichnam einen Lebendigen". Aller-
dings sagt Paulus im Brief an die Galater (2, 19): „Ich bin dem Gesetz gestor-
ben" (νόμω άπέθανον) - nicht „ich habe das Gesetz getötet". N. trägt sein eige-
nes Unternehmen in Paulus hinein, wie dann auch in Μ 68, wo er Paulus als
„Lehrer der Vernichtung des Gesetzes" bezeichnet (67, 18 f.). „Wenn ich
nicht mehr bin als das Gesetz, so bin ich der Verworfenste von Allen. Der
neue Geist, der in mir ist, woher ist er, wenn er nicht von euch [den „Himmli-
schen"; 28, 12] ist? Beweist es mir doch, dass ich euer bin; der Wahnsinn allein
beweist es mir" (28, 17-23).
Da N. in den früheren Partien dieses Textes für sich selbst den epochalen
Durchbruch von der alten Moral - von der konventionellen „Sittlichkeit" - zu
ganz „neuen Gedanken" beansprucht, werden hier die Anspielungen auf Pau-
lus transparent auf die Rolle, die N. selbst in der „Geschichte der Moralität" zu
spielen gedenkt. Indem er sich einerseits indirekt mit der religionsgeschichtli-
chen Bedeutung des Paulus identifiziert, sie andererseits aber destruktiv psy-
chologisiert, begibt er sich zugleich in eine für ihn charakteristische subversive
Selbstanalyse. Auch die Konsequenz, die sich aus dieser Form der Autoreflexi-
vität in seinen späten Schriften ergibt, vor allem schon im Zarathustra, wird
erkennbar: der Übergang von einem kritisch-aufklärerischen Duktus, der in
den Aphorismensammlungen der mittleren Phase dominiert, zu einem the-
tisch-apodiktischen Verkündigungsstil. Während der Durchbruch zum „Neu-
en", das Leitmotiv des vorliegenden Textes, nach dem Muster des Paulus das
bisher geltende „Gesetz" außer Kraft setzt, besteht das ,Neue' nicht nur in
„neuen Gedanken" und im „Geist", sondern geht selbst schon wieder in eine -
andere - Gesetzgebung über. Dies verrät die Formulierung, dass es darauf an-
komme, die bisher geltende „Sittlichkeit zu brechen", um „neue Gesetze zu
geben" (27, 17 f.). In dem von ihm selbst als zentral bezeichneten Zarathustra-
Kapitel „Von alten und neuen Tafeln" lässt N. seinen Zarathustra die alten Mo-
ralgesetze, die der biblischen Erzählung zufolge Moses auf dem Berg Sinai von
Gott auf „Tafeln" empfangen hatte, durch neue Gesetzes-Tafeln ersetzen.
(Auf diesen übergreifenden Kommentar zu M 14 folgt nun die durch Seiten-
und Zeilenzahl markierte Kommentierung einzelner Partien dieses Textes.)
26, 24 f. abweichende [...] Werthschätzungen] Ein zentrales Programm in N.s
späten Schriften ist die „Umwertung aller Werte". Werte versteht er als Resultat
von Wertschätzungen und Wertsetzungen. Es gibt für ihn keine Werte an sich.
Wertschätzungen und Wertsetzungen ihrerseits entstehen aus Bedürfnissen,
Erfahrungen, Nützlichkeitserwägungen und Interessen, aus Erziehung, Ge-
 
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