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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0111
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96 Morgenröthe

wohnheiten, verinnerlichten Traditionen, wie N. schon in zahlreichen Texten
der Morgenröthe darlegt. Wenn solche Wertschätzungen unter die Schwelle des
Bewusstseins geraten, fungieren sie als unreflektierte, vermeintlich absolut
geltende Verhaltensnormen, deren Summe die geltende Moral ist. Daraus leitet
N. die Aufgabe ab, letztere außer Kraft zu setzen und so das Umwertungsunter-
nehmen zu beginnen. Erst müssen alle geltenden Werte entwertet werden, da-
mit neue Werte - N. spricht in der Morgenröthe leitmotivisch von „neuen Ge-
danken", die von genialen Ausnahmemenschen formuliert werden - an die
Stelle der alten Werte treten können. Schon im ersten Satz der „Vorrede" zur
Neu-Ausgabe bezeichnet er sich als einen „Untergrabenden" (11, 4). N. unter-
gräbt in seinen Schriften die geltenden Werte, indem er deren Genese psycho-
logisch und historisch aufdeckt und sie damit ihres normativen Anspruchs be-
raubt. Dieses Verfahren, das er in der Morgenröthe immer wieder praktiziert,
kennzeichnet er später schon im Titel seiner Schrift Zur Genealogie der Moral.
Allerdings lässt sich die Methode der psychologischen und historisch-genealo-
gischen Subversion auch auf die neuen Werte anwenden, auf die das Umwer-
tungsunternehmen zielt. Hier, in M 14, ist jedoch noch nicht von neuen Wer-
ten, sondern nur von „neuen Gedanken" die Rede. Sie bleiben im Unbestimm-
ten, ähnlich wie N.s in anderen Texten der Morgenröthe mit visionärem Pathos
vorgetragener Wunsch nach Gestaltung der „Zukunft".
27, 1-4 Etwas, das so sichtbar das Zeichen völliger Unfreiwilligkeit trug, wie die
Zuckungen und der Schaum des Epileptischen, das den Wahnsinnigen dergestalt
als Maske und Schallrohr einer Gottheit zu kennzeichnen schien?] In der frühen
Antike glaubte man an den göttlichen Ursprung dieser Krankheit. Dagegen
wandte sich Hippokrates, der griechische Begründer der wissenschaftlichen
Medizin mit seiner Schrift Über die heilige Krankheit (Περί ίεράς νόσου), in der
er die Epilepsie aus einer Krankheit des Gehirns erklärte. Noch weit bis in die
Neuzeit hinein jedoch galt die Epilepsie („Fallsucht"), bei deren Anfällen die
Betroffenen unter Krämpfen und mit Schaum vor den Lippen bewusstlos zu
Boden stürzen, als „heilige Krankheit".
27, 13-15 „Durch den Wahnsinn sind die grössten Güter über Griechenland ge-
kommen", sagte Plato mit der ganzen alten Menschheit.] Platon zählt im Phai-
dros vier Arten des „göttlichen Wahnsinns", der θεία μανία auf (Phaidros 265
a-b): „Den göttlich bewirkten Wahnsinn aber haben wir nach vier Göttern in
vier Arten eingeteilt, indem wir die wahrsagerische Inspiration dem Apollon
zuwiesen, dem Dionysos die mysterienhafte, dann den Musen die dichterische,
die vierte aber der Aphrodite mit dem Eros". N. rekurriert auf eine frühere Aus-
sage im Phaidros (244 a-b): „nun aber entstehen uns die größten Güter aus
einem Wahnsinn, der jedoch durch göttliche Gunst verliehen wird. Denn die
 
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