Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 27 97
Prophetin zu Delphi und die Priesterinnen zu Dodone haben vieles Gute in
privaten und öffentlichen Angelegenheiten unserer Hellas zugewendet" (Über-
setzung von Friedrich Schleiermacher).
27, 22-23 selbst der Neuerer des poetischen Metrums musste durch den Wahn-
sinn sich beglaubigen] Anspielung auf die Erfindung des Dithyrambos durch
Archilochos im 7. Jahrhundert v. Chr. Auf den Dithyrambos geht N. in der Ge-
burt der Tragödie ausführlich ein, weil er eng mit dem Dionysoskult zusam-
menhing und weil die Athener am großen Dionysosfest im Frühling vor den
Tragödien-Aufführungen ein Wettsingen von Dithyramben-Chören veranstalte-
ten. Dionysos war der Gott des Weines, des Rausches und von alters her auch
der Gott des Wahnsinns. Schon im ältesten literarischen Zeugnis, in dem Dio-
nysos erwähnt wird, in Homers Ilias, 6. Gesang, V. 132, heißt er „der Rasende"
(μαινόμενος). Archilochos führt die dichterische Inspiration, der er seine Erfin-
dung des Dithyrambos verdankt, auf die im Wein berauschende Wirkung des
Dionysos zurück. In seinem fragmentarisch überlieferten Dithyrambos heißt
es:
ώς Διωνύσοι' ανακτος καλόν έξάρξαι μέλος
οίδα διθύραμβον οΐνωι συγκεραυνωθείς φρένας.
„Des Dionysos', des Herrn, schönes Lied anzustimmen
weiß ich, den Dithyrambos, vom Wein wie vom Blitz
getroffen in meinem Geist."
27, 23-25 (Bis in viel mildere Zeiten hinein verblieb daraus den Dichtern eine
gewisse Convention des Wahnsinns: auf welche zum Beispiel Solon zurückgriff,
als er die Athener zur Wiedereroberung von Salamis aufstachelte.)] Der dichteri-
sche Wahnsinn wurde schon in der Antike zum Gemeinplatz konventionali-
siert, und dies oft in enger Verbindung zum „Wahnsinn" genialer Menschen
überhaupt. Von Platon sind, neben den schon zitierten Partien aus dem Phai-
dros, noch die Ausführungen in seinem Dialog Ion zu nennen (533e-534a):
„Denn alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht durch Kunst, sondern
als Begeisterte und Besessene alle diese schönen Gedichte, und ebenso die
rechten Liederdichter, und so wenig die, welche vom tanzenden Wahnsinn be-
fallen sind, mit vernünftigem Bewußtsein tanzen, so dichten auch die Lieder-
dichter nicht bei vernünftigem Bewußtsein diese schönen Lieder, sondern
wenn sie von Harmonie und Rhythmus erfüllt sind" (Übersetzung von Fried-
rich Schleiermacher). Horaz beruft sich in seiner Ars poetica, einem für die
gesamte europäische Tradition ebenfalls wirkungsreichen Text, auf einen Aus-
Prophetin zu Delphi und die Priesterinnen zu Dodone haben vieles Gute in
privaten und öffentlichen Angelegenheiten unserer Hellas zugewendet" (Über-
setzung von Friedrich Schleiermacher).
27, 22-23 selbst der Neuerer des poetischen Metrums musste durch den Wahn-
sinn sich beglaubigen] Anspielung auf die Erfindung des Dithyrambos durch
Archilochos im 7. Jahrhundert v. Chr. Auf den Dithyrambos geht N. in der Ge-
burt der Tragödie ausführlich ein, weil er eng mit dem Dionysoskult zusam-
menhing und weil die Athener am großen Dionysosfest im Frühling vor den
Tragödien-Aufführungen ein Wettsingen von Dithyramben-Chören veranstalte-
ten. Dionysos war der Gott des Weines, des Rausches und von alters her auch
der Gott des Wahnsinns. Schon im ältesten literarischen Zeugnis, in dem Dio-
nysos erwähnt wird, in Homers Ilias, 6. Gesang, V. 132, heißt er „der Rasende"
(μαινόμενος). Archilochos führt die dichterische Inspiration, der er seine Erfin-
dung des Dithyrambos verdankt, auf die im Wein berauschende Wirkung des
Dionysos zurück. In seinem fragmentarisch überlieferten Dithyrambos heißt
es:
ώς Διωνύσοι' ανακτος καλόν έξάρξαι μέλος
οίδα διθύραμβον οΐνωι συγκεραυνωθείς φρένας.
„Des Dionysos', des Herrn, schönes Lied anzustimmen
weiß ich, den Dithyrambos, vom Wein wie vom Blitz
getroffen in meinem Geist."
27, 23-25 (Bis in viel mildere Zeiten hinein verblieb daraus den Dichtern eine
gewisse Convention des Wahnsinns: auf welche zum Beispiel Solon zurückgriff,
als er die Athener zur Wiedereroberung von Salamis aufstachelte.)] Der dichteri-
sche Wahnsinn wurde schon in der Antike zum Gemeinplatz konventionali-
siert, und dies oft in enger Verbindung zum „Wahnsinn" genialer Menschen
überhaupt. Von Platon sind, neben den schon zitierten Partien aus dem Phai-
dros, noch die Ausführungen in seinem Dialog Ion zu nennen (533e-534a):
„Denn alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht durch Kunst, sondern
als Begeisterte und Besessene alle diese schönen Gedichte, und ebenso die
rechten Liederdichter, und so wenig die, welche vom tanzenden Wahnsinn be-
fallen sind, mit vernünftigem Bewußtsein tanzen, so dichten auch die Lieder-
dichter nicht bei vernünftigem Bewußtsein diese schönen Lieder, sondern
wenn sie von Harmonie und Rhythmus erfüllt sind" (Übersetzung von Fried-
rich Schleiermacher). Horaz beruft sich in seiner Ars poetica, einem für die
gesamte europäische Tradition ebenfalls wirkungsreichen Text, auf einen Aus-