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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0120
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Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 30 105

Steigerung des auf das Thema ,Grausamkeit' konzentrierten sadomasochisti-
schen Komplexes in Jenseits von Gut und Böse vgl. NK Μ 30.
Damit mehr als ein bloß individuelles Gefühl und eine bloß individuelle
Vorstellung, nämlich eine überindividuell geltende und insofern erst als „Mo-
ral" und „Sittlichkeit zu bezeichnende Orientierung entsteht, müssen diese Ge-
fühle und Vorstellungen laut N. in der Gemeinschaft der Menschen habituali-
siert werden. Erst dadurch erhalten sie den Anschein ,moralischer' Verbind-
lichkeit, welche wiederum auf das Individuum zurückwirkt. N. spricht deshalb
wiederholt von der „Gemeinde" (30, 7; 30, 21 f.; 30, 31; 31, 4). In einer zweiten
Partie seiner Erörterung schwenkt er dann aber doch auf sein altes Lieblings-
thema und damit zugleich auf seinen persönlichen Anspruch um: auf das gro-
ße und geniale Individuum, das sich dadurch als Ausnahmepersönlichkeit er-
weist, dass es aus der Bahn der in der „Gemeinde" etablierten Moral ausbricht,
um ganz Eigenes und „Neues" zu verkünden. Er spricht von „neuen Bahnen"
(31, 12) und „neuen Zielen" (31, 17) und nimmt damit den schon in M 14 expo-
nierten Anspruch auf „neue Gedanken" (26, 24; 26, 27; 27, 4 f.; 27, 17 f.) wieder
auf.
Von jeher hatte sich das „Genie" durch seine ,Originalität' legitimiert:
durch ein Schöpfertum, das sich im Schaffen von „Neuem" manifestiert. Hatte
sich N. in M 14 auf den genialen „Wahnsinn" als Signum der über alle Normali-
tät und alle gewohnheitsmäßige ,Moralität' hinausgehenden „Neuerer" (27, 20)
berufen, so erblickt er ihr Schicksal und ihre Auszeichnung nunmehr im Märty-
rertum. Indirekt redet er hier auch über seine eigene Leidensgeschichte in einer
von schweren Krankheitsanfällen und Schmerzen heimgesuchten Zeit. Die
Briefe aus diesen Jahren sprechen eine deutliche Sprache. Zugleich ist er sich
bewusst, dass seine psycho-physischen Martern auch mit der permanenten
Überanstrengung infolge seines fieberhaften inneren Produktionsdrucks zu-
sammenhängen. Doch nimmt er dies zum Anlass, um sich als Märtyrer einer
höheren Aufgabe darzustellen und sein Freidenkertum zu heroisieren: Er will
es als opfervolle Pionierleistung verstehen. Deshalb spricht er von den „hel-
denhaftesten Seelen" und fährt fort: „Jeder kleinste Schritt auf dem Felde des
freien Denkens, des persönlich gestalteten Lebens ist von jeher mit geistigen
und körperlichen Martern erstritten worden: nicht nur das Vorwärts-Schreiten,
nein! vor Allem das Schreiten, die Bewegung, die Veränderung hat ihre unzäh-
ligen Märtyrer nöthig gehabt" (31, 19-25).
„Bewegung" und „bewegen" sind auch im weiteren Kontext von M 18 Leit-
begriffe (31, 8; 31, 32); sie entsprechen einem von den Zeitgenossen immer wie-
der artikulierten Bedürfnis, weil in diesen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts das
geistige Klima von Stagnation bestimmt war; es breitete sich eine Stimmung
unproduktiven und resignativen Epigonentums, ja lähmender Decadence aus
 
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