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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0137
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122 Morgenröthe

9-11). In alter Zeit ging man aber den natürlichen Ursachen nicht etwa „aus
dem Wege": Man konnte sie aufgrund des Fehlens moderner naturwissen-
schaftlicher Erkenntnisse, trotz des von Epikur und Lukrez aufgrund des ato-
mistischen Materialismus Demokrits erreichten Erkenntnisniveaus, noch nicht
exakt erkennen. Allenfalls kann die Rede sein von einem abergläubischen und
zurückgebliebenen Bewusstsein in der Moderne oder von einem unreflektier-
ten, traditionsbedingten und gefühlsmäßigen Nachwirken eigentlich schon
überholter Vorstellungen. Darauf geht N. mit der Feststellung ein: „So verach-
tet der Mensch im Banne der Sittlichkeit der Sitte erstens die Ursachen, zwei-
tens die Folgen, drittens die Wirklichkeit" (42, 27-29).
Mit den Ausführungen über Bade-Rituale (42, 16-21) bezieht sich N. auf die
Darstellung von Bräuchen der nordamerikanischen Creekindianer bei Gustav
Roskoff (1880, 161; Nachweis: Orsucci 1996, 196, Anm. 115).
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43, 8 f. Moralische Gefühle und moralische Begriffe.] Die Geschich-
te der moralischen Gefühle erscheint als eine ganz andere als die Geschichte
der moralischen Begriffe. Die Wendung „Geschichte der moralischen Gefühle"
variiert den Titel, den N.s Freund Paul Ree einem seiner Bücher gab: Der Ur-
sprung der moralischen Empfindungen (1877). Ein Vorbild für das methodische
Verfahren von Ree und N. ist das auch in Rees späterem Werk Die Entstehung
des Gewissens (1885) zitierte Werk von John Lubbock (1874): Die vorgeschichtli-
che Zeit erläutert durch die Überreste des Alterthums und die Sitten und Gebräu-
che der jetzigen Wilden.
Die moralischen Gefühle wurden schon in der britischen Moralphilosophie
des 18. Jahrhunderts theoretisch behandelt, insbesondere von dem als Begrün-
der der liberalen Wirtschaftslehre bekannten Adam Smith in dessen 1759 er-
schienenem Werk The Theory of Moral Sentiments. Anders als die französischen
Moralphilosophen und dann noch Ree und N. betonte Adam Smith die mit-
menschliche Sympathie als Grundlage der Moral. Hier zeigt sich eine Affinität
zu Rousseau und Schopenhauer, für die das Mitleid die Grundlage der Moral
ist. Schopenhauer sieht die Menschen von zwei konträren Motiven bestimmt:
Dominant in seinem prinzipiell pessimistischen Welt- und Menschenverständ-
nis sind Egoismus und Bosheit; allein das Mitleid erhebt den Menschen zum
moralischen Wesen. N. negiert in seinem programmatischen Immoralismus die
Moral grundsätzlich und versucht ähnlich wie Ree, ,moralische' Gefühle durch
die Darlegung ihrer „Herkunft" und ihrer „Geschichte" als gerade nicht ,mora-
lisch' zu erklären. N. setzt hier die Überlegung fort, die er schon in M 9 begon-
nen hat: dass ,Moral' auf Herkommen, Sitte und Gewöhnung beruht, also
 
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