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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0147
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132 Morgenröthe

starker Hand hast aus Ägyptenland geführt [...] Kehre dich von dem Grimm
deines Zorns" (2. Mose 32, 8-12).
N.s Aussage: „Die Juden haben den Zorn anders empfunden, als wir, sie
haben ihn heilig gesprochen" verfehlt insofern die Aussagen des Alten Testa-
ments, als es darin nicht um die Heiligsprechung des „Zorns" als eines bloßen
Affekts geht. Gegen den Affekt des Zorns wendet sich aufgrund des stoischen
Ethos Seneca in seinem Traktat De ira (,Über den Zorn'). Deshalb glaubte der
Kirchenvater Lactantius in einer Schrift mit dem Titel De ira dei (,Über den Zorn
Gottes') die biblische Vorstellung vom Zorn Gottes rechtfertigen zu müssen.
39
46, 24 Das Vorurtheil vom „reinen Geiste".] Hier verfolgt N. seine
schon in Menschliches, Allzumenschliches und in vielen anderen Texten der
Morgenröthe erkennbare Methode, allem Metaphysischen, Idealischen, Seeli-
schen und Spirituellen seine Eigenwertigkeit abzusprechen, indem er es auf
Physiologisches reduziert. Insbesondere attackiert er hier den christlichen Spi-
ritualismus und die christliche Askese, welche „den Körper geringschätzen"
lehrte (46, 27) und die physische Erfahrung der „Lust" (47, 5) vom Standpunkt
der „tugendhaften Reingeistigen" aus (47, 5) als sündhaft verwarf. In ihrer radi-
kalen Form forderte die Askese sogar die ,Abtötung' des Leibes. Schon längst
hatten so prominente Autoren wie Goethe und Heine dieser Art von Moral eine
Absage erteilt: Goethe, indem er eine ,heidnisch'-natürliche Sinnenfreude ge-
gen christliche Sinnenfeindschaft ausspielte, und noch mehr Heine, indem er
die zu seiner Zeit bereits aktuelle Opposition von Spiritualismus und Sensualis-
mus engagiert zuspitzte - am entschiedensten in der Reise von München nach
Genua, einem Hauptkapitel seiner zu N.s Lektüren gehörenden Reisebilder.
N. geht aber noch darüber hinaus, indem er die Deformation des Menschen
unter dem Druck spiritualistischer Wertungen zum Thema macht. Einer im
Laufe der Jahre immer stärker hervortretenden Grundtendenz entsprechend,
pathologisiert er die Folgen der von ihm kritisierten spiritualistischen Moral.
Dabei greift er das in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts modisch
gewordene Problem der nervösen Dekadenz auf. Er stellt eine „allgemeine,
chronisch gewordene Übernervosität" fest (47, 3 f.). Auch in anderen Texten
der Morgenröthe spielen die „Nerven" eine Rolle. In seinen Briefen teilt N. im-
mer wieder mit, wie sehr er selbst nervlich gefährdet sei. An Wagners Musik
diagnostiziert er in den späten Schriften eine krankhaft nervenreizende, ja ner-
venzerrüttende Wirkung. „Wagner est une nevrose" ruft er aus (WA, KSA
6, 22, 33), indem er den ihm bekannten Ausspruch „Daudet est une nevrose"
abwandelt. „Am unheimlichsten freilich bleibt die Verderbniss der Nerven"
 
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