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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0150
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Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 47-48 135

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47, 11 Das Grübeln über Gebräuche.] Wieder unternimmt es N., eine
Genealogie der Moral zu konstruieren. „Moral" hatte er schon in einer Reihe
von Texten, so bereits in M 9, als eine von den konkreten „Sitten" (Gebräuchen)
abgeleitete und sich schließlich zur unhinterfragten „Moral" verselbständigen-
de „Sittlichkeit" definiert. In Pascals Pensees fand er diese Bedeutung der „Ge-
bräuche" (coutumes), vgl. NK M 111, und schon Platon und Aristoteles gehen
darauf ein, allerdings in einem positiven Sinn (vgl. NK M 110). Auch aus Gustav
Roskoffs Werk Das Religionswesen der rohesten Naturvölker kannte er dieses
längst etablierte, nunmehr ethnologisch untermauerte Erklärungsmuster. In M
40 wählt N. noch einen anderen Aspekt: Gerade das Unverständliche, weil
nicht mehr aus bloßen „Gebräuchen" Erkennbare der Moral, ja deren Absurdi-
tät habe zur Tabuisierung, zum Eindruck der „heiligsten Heiligkeit" geführt.
Auf das „Credo quia absurdum" reflektiert N. an anderer Stelle. Was er als die
„ungeheure Übungsstätte des Intellectes" bezeichnet (47, 22 f.), ist sein eigener
Versuch in der Morgenröthe, das unverständlich Gewordene vor allem durch
Historisierung rational zu verstehen und damit die ,moralische' Autorität ad
absurdum zu führen. In der historischen Perspektive gehören deshalb die frü-
heren Stadien der Menschheit zur bloßen „Vorwelt der Wissenschaft".

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48, 2 f. Zur Werthbestimmung der vita contemplativa.] N. nimmt
hier die seit Aristoteles tradierte Entgegensetzung von vita contemplativa (be-
schaulichem Leben) und vita activa (tätigem Leben) auf. Seine - an die Kritik
am Vorurteil vom reinen Geist in M 39 anknüpfende - skeptische Infragestel-
lung der traditionellen Hochschätzung des kontemplativen Lebens dient an
erster Stelle dem Angriff auf die Religion, insbesondere auf das Christentum,
das er im Kampf gegen die „moralischen Vorurtheile" für diese weithin verant-
wortlich macht. Er spricht aber nicht, wie traditionell üblich, abstrakt von der
vita contemplativa, sondern konkretisiert und paradigmatisiert sie durch eine
Fixierung auf bestimmte Typen und Berufe. Indem er diese negativ besetzt und
ihre Vertreter tendenziell als unsympathisch darstellt, erscheint die vita con-
templativa insgesamt als defizitäre Lebensform. Schon in der Geburt der Tragö-
die hatte er eine ähnliche Strategie der Typisierung und Paradigmatisierung
verfolgt: Sokrates repräsentiert dort den - heftig abgelehnten - Typus des
„theoretischen Menschen" (KSA 1, 98, 7-10; vgl. NK 1/1, 98, 7-10). Im vorliegen-
den Text mutiert der theoretische Mensch zum kontemplativen Menschen. Er
erscheint in verschiedenen Formen: erstens als Religiöser, zweitens als Künst-
 
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