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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0174
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Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 70-73 159

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72, 12 Christlicher Hintergedanke.] Dass die Furcht vor der Macht ei-
nes „mächtigen Richters" die frühen Christen dazu gebracht habe, sich ihre
„Schuld einzureden" ist ebenso spekulativ - ein „Hintergedanke" N.s
selbst - wie die historisch haltlose Imagination: „So empfanden die armen
Leute in der Provinz vor dem römischen Prätor: ,er ist zu stolz, als dass wir
unschuldig sein dürften'." (72, 20-22)
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72, 26 Nicht europäisch und nicht vornehm.] Das Bibel-Zitat „wen
Gott lieb hat, den züchtigt er" (72, 28 f.) stammt aus dem Brief an die Hebräer
12, 6: „Denn welchen der Herr liebhat, den züchtigt er; und er stäupt einen
jeglichen Sohn, den er aufnimmt". Daraus und auch aus der Fortsetzung im
Hebräerbrief geht hervor, dass es sich bei der Vorstellung der Züchtigung
durch Gott gerade nicht, wie N. unterstellt, um etwas „Weibliches" im Christen-
tum handelt, das er von der Behandlung der „Frauen im Orient" (72, 29) herzu-
leiten versucht, vielmehr um eine väterliche Erziehungsmaßnahme gegenüber
dem Sohn, den er liebt. Deshalb heißt es schon im folgenden Bibelvers (12, 7):
„So ihr die Züchtigung erduldet, so erbietet sich euch Gott als Kindern; denn
wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt?" Das Urteil „Nicht europä-
isch", das N. an den Anfang stellt, beruht auf einem ,Vorurteil', denn die patri-
archalische Strenge - nicht nur gegenüber Söhnen - ist von den Römern bis
in die europäische Moderne ein feststehender Zug. Die These, die Vorstellung
einer Züchtigung durch Gott sei „nicht vornehm", resultiert aus dem kultu-
rellen Vorurteil „nicht europäisch". N. kultiviert schon in der Morgenröthe
und dann noch entschiedener in den späten Schriften Wunschvorstellungen
von „Vornehmheit". Vgl. hierzu M 199 und M 201 sowie die entsprechenden
Kommentare.

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73, 4 Böse denken heisst böse machen.] N. greift hier die im Christen-
tum fest verankerte Abwertung der Sexualität auf. Diese Kritik war schon
längst ein Bestandteil der Auseinandersetzung mit Christentum und Kirche,
wie etwa das Beispiel Goethes und Heines zeigt. Der Hinweis auf die christliche
Verdüsterung in einigen Sonetten Shakespeares lässt nicht klar erkennen, an
welche von den 154 Sonetten N. denkt - am ehesten wohl an die Nummern
CXI, CXXIX, CXLII und CLI.
 
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