Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0180
Lizenz: In Copyright
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 78 165

Texte eine deutliche Nähe. Diogenes Laertius führt zehn derartige Tropen an
(Diogenes Laertius IX 79-88). „Der erste [Tropus]", schreibt er, „bezieht sich
auf die Verschiedenheit der lebenden Wesen in Hinsicht auf Lust, Schmerz,
Schaden und Nutzen. Daraus ergibt sich, daß die nämlichen Anlässe nicht die
nämlichen Vorstellungen hervorrufen, ein Widerstreit, der zur Folge hat, daß
man mit seinem Urteil zurückhalten muß" (Diogenes Laertius IX 79). „Der
zweite Tropus", fährt er fort, „bezieht sich auf die Verschiedenheit der mensch-
lichen Naturen je nach der Besonderheit ihrer körperlichen Konstitution [...]
Und das nämliche schadet den einen, den anderen nützt es. Daher muß man
mit dem Urteil zurückhalten" (Diogenes Laertius IX 80). Auch der vierte Tropus
berührt sich mit Ausführungen N.s, insbesondere mit seinen markant physiolo-
gischen Aussagen: „Der vierte Tropus bezieht sich auf die Stimmungen und,
allgemein gesagt, auf den Wechsel der Zustände, als da sind Gesundheit,
Krankheit, Schlaf, Wachen, Freude, Leid, Jugend, Alter, Mut, Furcht [...] Ver-
schieden also stellt sich das uns Entgegentretende dar, je nach den verschiede-
nen Zuständen" (Diogenes Laertius IX 82).
Von besonderem Interesse im Hinblick auf die für N. kardinale Hinterfra-
gung moralischer Urteile und Wertungen ist der fünfte Tropus: „Der fünfte be-
zieht sich auf die Lebensführung, auf die Gesetze, auf den Glauben an mythi-
sche Überlieferungen, auf die Verträge unter den Völkern und auf die dogmati-
schen Annahmen. Hierher gehören die Ansichten vom Schönen und
Häßlichen, vom Wahren und Falschen, vom Guten und Bösen, von den Göttern
und vom Entstehen und Vergehen alles dessen, was da erscheint. Denn das
nämliche gilt den einen als gerecht, den anderen als ungerecht, den einen als
gut, den anderen als bös [...] Unsere Parole also sei: Zurückhaltung des Urteils
über die Wahrheit" (Diogenes Laertius IX 83-84).
N.s Affinität zur aufgeklärten Skepsis besteht in der Subversion der bisher
geltenden moralischen und sonstigen (Vor-)Urteile, aber er zieht die Konse-
quenz der skeptischen Urteilsenthaltung nur, insofern er das Konzept einer
Experimentalphilosophie entwirft. Indem er auf eine „Umwertung aller Werte"
zusteuert, auf eine Statuierung von Werten und Urteilen, die den bisher gelten-
den entgegengesetzt sind und sich in „neuen Tafeln" dogmatisch verfestigen -
das zeigt exemplarisch das zentrale Zarathustra-Kapitel ,Von alten und neuen
Tafeln' -, entspricht er nicht mehr der skeptischen Geisteshaltung. Lediglich
die eher subkutan wirkenden Selbstaufhebungen erinnern an die prinzipielle
Skepsis. Zu ihr gehört auch die Erkenntnis, dass jeder Versuch, etwas theore-
tisch zu begründen und zu beweisen, einer unendlichen Regression verfallen
muss - was bei N. schließlich zu dezisionistischen und apodiktischen oder
aber ins Beliebige gehenden, letztlich nihilistischen Operationen führt. Im Ka-
pitel des Diogenes über den Pyrrhonismus konnte er lesen: „Der Regreß ins
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften