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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0191
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176 Morgenröthe

Fragmente und Briefe. Aus dem Französischen nach der mit vielen unedirten
Abschnitten vermehrten Ausgabe P. Faugeres. Deutsch von Dr. C. F. Schwartz
(2. Auflage 1865). In Teil 1 heißt es (N. hat diese Sätze in seinem Exemplar
unterstrichen):
„Offenbarte sich Gott den Menschen beständig, so wäre es kein Verdienst,
an ihn zu glauben; und offenbarte er sich nie, so gäbe es wenig Glauben. Aber
er verbirgt sich gewöhnlich und offenbart sich nur selten denen, welche er in
seinen Dienst ziehen will. Dieses wunderliche Geheimnis, in welches Gott sich
zurückzog, undurchdringbar für die Menschen, weist uns eindringlich in die
Einsamkeit, fern vom Blicke der Menschen." (Pascal 1865, 38; in der französi-
schen Ausgabe von Prosper Faugere: Pascal 1844, I, 38.)
Vor dem Hintergrund der in M 91 in Frage gestellten „Redlichkeit Gottes"
handelt N. später von der Redlichkeit des Philosophen, die er für sich selbst
beansprucht und im Zarathustra dieser Projektionsfigur zuschreibt. Vgl. NK M
456.

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85, 16 Am Sterbebette des Christenthums.] Bereits in der Geburt der
Tragödie hatte N. das Absterben der christlichen Religion konstatiert. Er stimm-
te darin mit dem befreundeten Basler Theologen Franz Overbeck überein, dass
das Christentum abgewirtschaftet habe und zu „schwach" sei, um noch gültige
Sinnerfahrung zu vermitteln. Zur Zeit der Tragödienschrift tritt für ihn die
Kunst an die Stelle der Religion und er imaginiert einen entsprechenden histo-
rischen Ablösungsvorgang: „Die Kunstperiode ist eine Fortsetzung der my-
then-und religionbildenden Periode. / Es ist ein Quell, aus dem Kunst und
Religion fließt. / Jetzt ist es gerathen, die Reste des religiösen Lebens zu
beseitigen, weil sie matt und unfruchtbar sind und die Hingebung an ein
eigentliches Ziel abschwächen. Tod dem Schwachen!" (NL 1871, KSA 7, 9[94],
309) Mit der in Anführungszeichen gesetzten Trias ,„Gott, Freiheit und Un-
sterblichkeit"' (85, 29 f.) erinnert N. an Kant, der in der Einleitung zur Kritik
der reinen Vernunft (2. Auflage 1787, 7) von „Erkenntnissen" spricht, „welche
über die Sinnenwelt hinausgehen, wo Erfahrung gar keinen Leitfaden, noch
Berichtigung geben kann", und anschließend die - nicht lösbaren - Aufgaben
dieser so abgegrenzten „reinen Vernunft" mit den Worten bestimmt: „Diese
unvermeidlichen Aufgaben der reinen Vernunft selbst sind Gott, Freiheit
und Unsterblichkeit. Die Wissenschaft aber, deren Endabsicht mit allen
ihren Zurüstungen eigentlich nur auf die Auflösung derselben gerichtet ist,
heißt Metaphysik". Damit rekurriert Kant auf die traditionelle Einteilung der
 
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