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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0194
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Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 86-87 179

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87, 7 „In hoc signo vinces."] Nach einer Legende soll Kaiser Konstantin I.
(306-337), der das Christentum zur Staatsreligion erhob, vor der Entschei-
dungsschlacht im Jahr 312 an der Milvischen Brücke eine Kreuzeserscheinung
gehabt haben, die mit der Prophezeiung verbunden war: „In hoc signo vinces"
(„In diesem Zeichen wirst du siegen"). Diese Legende erzählen zwei Kirchenvä-
ter (Lactantius: De mortibus persecutorum 44, 5; Eusebius: Vita Constantini I
28). In seiner Spätschrift Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum, in der N.
das Christentum für den Niedergang der Menschheit verantwortlich macht,
greift er noch einmal diese Formel auf: „in hoc signo siegte die decadence"
(KSA 6, 232, 16). Schon in der Morgenröthe verkehrt N. den Sinn ins Antireligiö-
se: Er hat sich den Kampf gegen Christentum und „Moral" auf die Fahnen ge-
schrieben. Dafür wählt er sich als orientierendes Beispiel das Brahmanentum,
weil er in diesem die stufenweise sich vollziehende Aufhebung der Religion
modellhaft vorgebildet sieht. Von Anfang an versucht er, seine eigene aufkläre-
rische „Freigeisterei" mit dem Brahmanentum zu verbinden - er spricht von
der „freisinnigen" Art der alten Brahmanen (87, 9) und empfiehlt die in den
verschiedenen Phasen des Brahmanismus bis hin zum Auftreten Buddhas fort-
schreitende Auflösung heteronomer religiöser Fixierungen als Vorbild für Euro-
pa, das hier als „Gebot des Denkens" (87, 30) wirken soll. N. war mit dem
Buddhismus und Brahmanismus schon durch Schopenhauer und auch durch
Wagner vertraut, und er nahm eine ganze Anzahl von Werken zum Buddhis-
mus - der damals ein Modethema war - zur Kenntnis. Aus der Universitätsbib-
liothek Basel entlieh er schon am 25. 10. 1870 das Werk von Carl Friedrich
Koeppen: Die Religion des Buddha, 2 Bde., Berlin 1857-1859; seit 1877 besaß er
in seiner persönlichen Bibliothek die Schrift von Jacob Wackernagel: Über den
Ursprung des Brahmanismus (1877); zweimal, im Sommersemester 1878 und im
Wintersemester 1879, entlieh er das Werk von Martin Haug: Brahma und die
Brahmanen (1871); in seiner persönlichen Bibliothek hatte er das maßgebende
Werk von Hermann Oldenberg: Buddha. Sein Leben, seine Lehre, seine Gemein-
de (1881).
Schon früh hatte N. das Bedürfnis, eine Gemeinde von Gleichgesinnten um
sich zu versammeln. So zeugen zahlreiche Briefe aus der Zeit seiner nahen
Freundschaft mit Wagner von dem Versuch, einen Bund von Wagner-Verehrern
zu organisieren; in der Geburt der Tragödie ruft er sie immer wieder empha-
tisch als „meine Freunde" an; im Zarathustra imaginiert er Anhänger und Jün-
ger, die Zarathustras Verkündigungen hören; in der Morgenröthe beschwört er
mit dem Ausruf „Wir Freigeister" eine Gemeinschaft Gleichdenkender, und der
letzte Text „Wir Luft-Schifffahrer des Geistes!" gibt dem Wir-Gefühl einer frei-
geisterischen Elite intensiven Ausdruck. Entsprechend setzt N. auch in M 96,
 
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