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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0200
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Stellenkommentar Zweites Buch, KSA 3, S. 92-93 185

Ende formulierte Einsicht, dass der „Einzelne", weil er in der von bloßen Mei-
nungen und Gewöhnungen bestimmten „Mehrzahl" aufgeht, „kein wirkliches,
ihm zugängliches und von ihm ergründetes ego" (93, 17 f.) habe, verrät aller-
dings die Aporie dieses auf eine ungreifbare Eigentlichkeit setzenden Individu-
alitätsdenkens, denn N. bleibt, wie generell, gerade eine ,eigene' positive Be-
stimmung des „ego" schuldig. Insbesondere sagt er nicht, wie dieses ego sich
selbst „zugänglich" machen und sich „ergründen" könne.
Der Text hat noch eine andere Dimension; relevant ist sie im Hinblick auf
die Konzeption des „Willens zur Macht", auf N.s eigenes Streben nach macht-
voller „Wirkung" und auf den im Zarathustra dominierenden pseudoprophe-
tisch-autoritären Sprechhabitus, der einen solchen „Willen zur Macht" und zur
„Wirkung" verrät. Trotz gelegentlicher Gesten der Selbstaufhebung demonst-
riert er maximale Souveränität und insofern ebenfalls „Macht". Unverstellt dik-
tatorischen Ausdruck findet die Macht-Fixierung in N.s Vorliebe fürs „Befeh-
len", für „Befehlshaber" und „Führer". Im vorliegenden Text geht N. von der
Überlegung aus, dass die generalisierenden Urteile über „den Menschen" (93,
10) im Abstrakt-Unbestimmten bleiben und dass zugleich in der gesellschaftli-
chen Realität der Einzelne keine wirkliche Individualität hat, weil er in der
„Mehrzahl" untergeht. Demnach entsteht sowohl ein theoretisch-anthropologi-
sches Vakuum durch das Abstraktum ,der Mensch' wie auch ein gesellschaft-
lich reales Vakuum, da in der von bloßen Meinungen und Gewöhnungen be-
stimmten Masse - sie ist mit der „grossen Mehrzahl" gemeint - der „Einzelne"
substanzlos und letztlich amorph bleibt. Daraus ergibt sich die Möglichkeit,
Macht auszuüben: die „Philosophen" können theoretische „Urtheile" (93, 14)
dekretieren und die „Fürsten" ihren Willen durchsetzen. Dagegen lehnt N. die
„Autorität der Moral" (94, 26) und die moralischen Vorschriften als „Befehle"
ab, vgl. Μ 107 (95, 8-16).
106
93, 21f. Gegen die Definitionen der moralischen Ziele.] Dieser Text
steht im inneren Zusammenhang mit den vorausgehenden und den nachfol-
genden Erörterungen, insofern er sich gegen eine Moral wendet, die sich an
der „Menschheit" orientiert und deshalb übergeordnete, allgemeinverbindli-
che „Ziele" formuliert. N.s Angriff auf die Moral ist wesentlich mitmotiviert von
der prinzipiellen Ablehnung alles Überindividuellen, Allgemeinen, kurz: der
„Mehrzahl". Die „Moral" ist für ihn nicht nur als solche fragwürdig, sondern
mindestens ebensosehr aufgrund der mit ihrem Anspruch auf Allgemeingültig-
keit verbundenen Orientierung an der „Menschheit", die zum Kern des aufklä-
rerischen Humanitätsdenkens gehört. Dieses Humanitätsdenken, das aus dem
 
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