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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0202
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Stellenkommentar Zweites Buch, KSA 3, S. 94 187

Wie die wörtliche Übernahme einiger Wendungen aus dem Handbuch der
Moral von Johann Julius Baumann erkennen lässt, wendet sich N. auch gegen
dessen humanistisch-fortschrittliche ,Moral'-Vorstellung, die früheren eudai-
monistischen Entwürfen im Prinzip folgt, wenn auch mit einigen Einschrän-
kungen. N.s Kritik bezieht sich nur auf die „Definitionen der moralischen Zie-
le", während N. Baumanns „psychologisch-physiologischer" Darstellung sonst
vielfach folgt. Baumann schreibt: „Es sind somit von dem früheren Eudaimo-
nismus [...] die Einseitigkeiten und Gegensätzlichkeiten abzustreifen, dann er-
hebt sich auf dem Grunde der formalen Gleichheit der Grundzüge menschli-
cher Natur als sittliche Aufgabe, dass ein jeder sich von seiner überwiegenden
Art aus bethätige unter Anerkennung der je überwiegenden Art der Anderen
[...]; die Moral ist daher unmittelbar eine immanente, sie geht von unseren
irdischen Verhältnissen aus und bewegt sich in diesen, es sind damit nicht
Hoffnungen, Aussichten, Erwartungen über die Erde hinaus ausgeschlossen,
aber diese Transcendenz muss die gegebene irdische Natur und die daraus
erwachsenden Aufgaben anerkennen und an sie anknüpfen [...]. Wenn es sich
darum handelte, diese moralische Auffassung mit einem Worte zu bezeichnen,
so würde ich sagen: Princip der Moral ist Erhaltung und Förderung der
Menschheit" (Baumann 1879, 118 f.). Gerade dieses Fazit greift N. am Beginn
von M 106 an: „Man hört allerwärts jetzt das Ziel der Moral ungefähr so be-
stimmt: es sei die Erhaltung und Förderung der Menschheit; aber das heisst
eine Formel haben wollen und weiter Nichts. Erhaltung, worin? muss man
sofort dagegen fragen, Förderung wohin?" (93, 22-26) Baumann hatte auf
S. 130 seines Handbuchs sein Moral-„Princip" präzisiert: „Unser Moralprincip
nennt sich Erhaltung und Förderung der Menschheit, um auszudrücken, dass
alle Hauptseiten menschlichen Wesens nicht blos nach Kräften bewahrt, son-
dern auch zur Ausbildung gebracht werden sollen" (Baumann 1879, 130). Ein
nachgelassenes, kritisch gemeintes Notat N.s vom Jahr 1880 enthält die Formu-
lierung „Erhaltung und Förderung des Glückes" (4[53], KSA 9, 112).
107
94, 19 Unser Anrecht auf unsere Thorheit.] In diesem wie im folgen-
den Text rückt die schon in mehreren der vorausgehenden Erörterungen - be-
sonders in M 104 und M 105 - traktierte Opposition von allgemein verbindli-
cher Moral und individuellem Anspruch ins Zentrum. Es sei, schreibt N., „diese
feierliche Anwesenheit, ja Allgegenwart moralischer Befehle, welche der in-
dividuellen Frage nach dem Wozu? und dem Wie? gar nicht gestattet, laut
zu werden" (95, 13-16). Die „Befehle" sind die moralischen Gebote, wie sie
prototypisch und apodiktisch schon im mosaischen Dekalog formuliert sind.
 
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