Stellenkommentar Zweites Buch, KSA 3, S. 102-104 195
erörternden Text der Morgenröthe (vor allem gegen Ende) wie auch in Μ 114
überdeutlich sind. In den Paragraphen 9 und 10 der Schrift Zur Genealogie der
Moral stellt N. mehrere Texte aus der Morgenröthe zusammen, worauf er auch
explizit hinweist. Die exotische Legende von Vigvamitra konnte N. über die
spezielle wörtliche Quelle (Jacob Wackernagel) hinaus auch deshalb für seine
Leser aktualisieren, weil Brahmanentum und Buddhismus bei den Zeitgenos-
sen - nicht zuletzt durch die Wirkung Schopenhauers - Modethemen waren.
Allgemeiner bekannt war in der literarischen Welt die „berühmte Geschichte
des Königs Vigvamitra" (GM III 10) durch den großen, populären Erfolg von
Heinrich Heines Buch der Lieder, in dem ein Gedicht über Vishvamitra steht
(„Die Heimkehr" XLV). Zugrunde liegt eine altindische Legende. In ihr erhält
Vishvamitra, ein mythologischer Königssohn der Veden, durch Askese überna-
türliche Kräfte. Als er neue Welten schaffen wollte und so die kosmische Ord-
nung gefährdete, schickte der Gott Indra eine Nymphe, die ihn verführte und
schwächte.
114
104, 28 Von der Erkenntniss des Leidenden.] In diesem Text diagnos-
tiziert N. seine eigene Leidensgeschichte im Hinblick auf die aus Leiden und
Schmerz folgende Zerstörung früherer Illusionen über das Leben: Leiden
macht demnach hellsichtig und fördert die Erkenntnis. Dies entspricht weitge-
hend Schopenhauers Verständnis des Daseins, dem zufolge das Leiden die ei-
gentliche Daseinsverfassung ist. Sie bleibt lediglich durch illusionsträchtige
„Vorstellungen" - durch den „Schleier der Maja" - so lange verhüllt, bis mögli-
cherweise die wahre Erkenntnis aus der unseligen, schmerzvollen Sphäre, die
Schopenhauer „Wille" nennt, durchbricht, und den Schleier (in 106, 34 spielt
N. auf den „Schleier" an) zerreißt. N. versucht dieser radikal pessimistischen
Sicht eine positive Wendung zu geben, indem er der - wenn auch aus Leiden
und Schmerz entstandenen - Erkenntnis einen eigenen Lebenswert abgewinnt:
die Lust, ja den „unsäglichen Reiz" (105, 21), den auch dieses desillusionieren-
de Erkennen mit sich bringt. Der lustvolle Selbstgenuss des Erkennenden wird
noch erhöht durch das Gefühl der Souveränität, welches aus der (dreimal her-
vorgehobenen, 105, 25-29) „Verachtung" der in ihren Illusionen sich einrich-
tenden Normalexistenzen und der früher selbst gehegten Illusionen entspringt.
So gelingt ein neues Bekenntnis zum „Leben" (106, 10). Dieses Entstehen
der Lebensbejahung durch Leiden erinnert an die Geschichte des Barons von
Münchhausen, der sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zieht.
erörternden Text der Morgenröthe (vor allem gegen Ende) wie auch in Μ 114
überdeutlich sind. In den Paragraphen 9 und 10 der Schrift Zur Genealogie der
Moral stellt N. mehrere Texte aus der Morgenröthe zusammen, worauf er auch
explizit hinweist. Die exotische Legende von Vigvamitra konnte N. über die
spezielle wörtliche Quelle (Jacob Wackernagel) hinaus auch deshalb für seine
Leser aktualisieren, weil Brahmanentum und Buddhismus bei den Zeitgenos-
sen - nicht zuletzt durch die Wirkung Schopenhauers - Modethemen waren.
Allgemeiner bekannt war in der literarischen Welt die „berühmte Geschichte
des Königs Vigvamitra" (GM III 10) durch den großen, populären Erfolg von
Heinrich Heines Buch der Lieder, in dem ein Gedicht über Vishvamitra steht
(„Die Heimkehr" XLV). Zugrunde liegt eine altindische Legende. In ihr erhält
Vishvamitra, ein mythologischer Königssohn der Veden, durch Askese überna-
türliche Kräfte. Als er neue Welten schaffen wollte und so die kosmische Ord-
nung gefährdete, schickte der Gott Indra eine Nymphe, die ihn verführte und
schwächte.
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104, 28 Von der Erkenntniss des Leidenden.] In diesem Text diagnos-
tiziert N. seine eigene Leidensgeschichte im Hinblick auf die aus Leiden und
Schmerz folgende Zerstörung früherer Illusionen über das Leben: Leiden
macht demnach hellsichtig und fördert die Erkenntnis. Dies entspricht weitge-
hend Schopenhauers Verständnis des Daseins, dem zufolge das Leiden die ei-
gentliche Daseinsverfassung ist. Sie bleibt lediglich durch illusionsträchtige
„Vorstellungen" - durch den „Schleier der Maja" - so lange verhüllt, bis mögli-
cherweise die wahre Erkenntnis aus der unseligen, schmerzvollen Sphäre, die
Schopenhauer „Wille" nennt, durchbricht, und den Schleier (in 106, 34 spielt
N. auf den „Schleier" an) zerreißt. N. versucht dieser radikal pessimistischen
Sicht eine positive Wendung zu geben, indem er der - wenn auch aus Leiden
und Schmerz entstandenen - Erkenntnis einen eigenen Lebenswert abgewinnt:
die Lust, ja den „unsäglichen Reiz" (105, 21), den auch dieses desillusionieren-
de Erkennen mit sich bringt. Der lustvolle Selbstgenuss des Erkennenden wird
noch erhöht durch das Gefühl der Souveränität, welches aus der (dreimal her-
vorgehobenen, 105, 25-29) „Verachtung" der in ihren Illusionen sich einrich-
tenden Normalexistenzen und der früher selbst gehegten Illusionen entspringt.
So gelingt ein neues Bekenntnis zum „Leben" (106, 10). Dieses Entstehen
der Lebensbejahung durch Leiden erinnert an die Geschichte des Barons von
Münchhausen, der sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zieht.