Stellenkommentar Zweites Buch, KSA 3, S. 107-108 197
als prinzipiell nicht moralisch zurechnungsfähig, folglich als für sein Handeln
nicht verantwortlich darstellt. Insofern dient auch diese Erörterung dem über-
geordneten Ziel, moralische „Vorurtheile" zu dekuvrieren und moralische Ur-
teile grundsätzlich als vorurteilshaft zu verstehen. N. greift die idealistische
Vorstellung an, wie sie prototypisch Schiller im Anschluss an Kant vertreten
hatte: dass der Mensch frei, folglich für sein Tun voll verantwortlich sei und
mit seinem Willen sich selbst bestimmen könne. Diese Position problematisiert
N. mit dem (von ihm selbst vorgebrachten) provozierenden Schein-Zitat: ,„Ich
weiss, was ich will, was ich gethan habe, ich bin frei und verantwortlich da-
für"' (108, 20 f.). Den philosophischen Hintergrund bildet Kants Unterschei-
dung zwischen empirischem und intelligiblem Charakter, die Schopenhauer
in § 10 seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral in modifizierter Form
aufnimmt. Demzufolge unterliegt zwar der empirische Charakter aufgrund der
Kausalität von Motiven, die ihn bestimmen, den Gesetzen der Natur-Notwen-
digkeit, aber der intelligible Charakter erzeugt ein Bewusstsein von der Freiheit
des Willens und der Mensch fühlt sich deshalb zu Recht moralisch verantwort-
lich. Freiheit kommt nicht dem empirischen, sondern allein dem intelligiblen
Charakter zu. N.s Kritik an derartigen Vorstellungen entspricht einem zeitge-
nössischen Kontext: Der Naturalismus negierte gerade die Freiheit des Men-
schen und stellte damit dessen Autonomie in Frage, nicht zuletzt in ,morali-
scher' Hinsicht; er begriff den Menschen als gänzlich abhängig von biologi-
schen, ökonomischen und gesellschaftlichen Faktoren und daher als ein
fundamental unfreies, determiniertes Wesen.
N. geht im Folgenden noch zu einem anderen Aspekt über, indem er es als
absurd bezeichnet, dass die „richtige" Erkenntnis notwendig zur „richtigen",
d. h. im Kontext seiner Ausführungen: zur moralisch verantworteten Handlung
führt. Die Behauptung, dass „Sokrates und Plato" (108, 26) dies als „verhäng-
nisvollstes Vorurtheil" lanciert hätten, trifft nicht zu, da Platon seine Sokrates-
figur keineswegs auf die Notwendigkeit festlegt, dass aus „,der richtigen Er-
kenntniss die richtige Handlung folgen müsse'" (108, 29 f.). Das von N. für
die Morgenröthe oft herangezogene Werk von Johann Julius Baumann: Hand-
buch der Moral nebst Abriss der Rechtsphilosophie (1879) formuliert folgender-
maßen: „nach Sokrates wäre es ein unerträglicher Gedanke (δεινόν), wenn das
richtige Wissen z. B. von Gerechtigkeit nicht das Thun nach sich zöge, Plato
hat dieselbe Lehre" (Baumann 1879, 97). Er sieht die richtige Erkenntnis nur
als notwendige, nicht aber als hinreichende Bedingung richtigen Handelns.
Abschließend wendet sich N. gegen Schopenhauers These, jeder könne sogar
die Rolle des moralischen Richters übernehmen, da er „Gutes und Böses genau
kenne" (109, 25 f.). N. zitiert diesen Passus ausführlich aus Schopenhauer 1864,
433 f.
als prinzipiell nicht moralisch zurechnungsfähig, folglich als für sein Handeln
nicht verantwortlich darstellt. Insofern dient auch diese Erörterung dem über-
geordneten Ziel, moralische „Vorurtheile" zu dekuvrieren und moralische Ur-
teile grundsätzlich als vorurteilshaft zu verstehen. N. greift die idealistische
Vorstellung an, wie sie prototypisch Schiller im Anschluss an Kant vertreten
hatte: dass der Mensch frei, folglich für sein Tun voll verantwortlich sei und
mit seinem Willen sich selbst bestimmen könne. Diese Position problematisiert
N. mit dem (von ihm selbst vorgebrachten) provozierenden Schein-Zitat: ,„Ich
weiss, was ich will, was ich gethan habe, ich bin frei und verantwortlich da-
für"' (108, 20 f.). Den philosophischen Hintergrund bildet Kants Unterschei-
dung zwischen empirischem und intelligiblem Charakter, die Schopenhauer
in § 10 seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral in modifizierter Form
aufnimmt. Demzufolge unterliegt zwar der empirische Charakter aufgrund der
Kausalität von Motiven, die ihn bestimmen, den Gesetzen der Natur-Notwen-
digkeit, aber der intelligible Charakter erzeugt ein Bewusstsein von der Freiheit
des Willens und der Mensch fühlt sich deshalb zu Recht moralisch verantwort-
lich. Freiheit kommt nicht dem empirischen, sondern allein dem intelligiblen
Charakter zu. N.s Kritik an derartigen Vorstellungen entspricht einem zeitge-
nössischen Kontext: Der Naturalismus negierte gerade die Freiheit des Men-
schen und stellte damit dessen Autonomie in Frage, nicht zuletzt in ,morali-
scher' Hinsicht; er begriff den Menschen als gänzlich abhängig von biologi-
schen, ökonomischen und gesellschaftlichen Faktoren und daher als ein
fundamental unfreies, determiniertes Wesen.
N. geht im Folgenden noch zu einem anderen Aspekt über, indem er es als
absurd bezeichnet, dass die „richtige" Erkenntnis notwendig zur „richtigen",
d. h. im Kontext seiner Ausführungen: zur moralisch verantworteten Handlung
führt. Die Behauptung, dass „Sokrates und Plato" (108, 26) dies als „verhäng-
nisvollstes Vorurtheil" lanciert hätten, trifft nicht zu, da Platon seine Sokrates-
figur keineswegs auf die Notwendigkeit festlegt, dass aus „,der richtigen Er-
kenntniss die richtige Handlung folgen müsse'" (108, 29 f.). Das von N. für
die Morgenröthe oft herangezogene Werk von Johann Julius Baumann: Hand-
buch der Moral nebst Abriss der Rechtsphilosophie (1879) formuliert folgender-
maßen: „nach Sokrates wäre es ein unerträglicher Gedanke (δεινόν), wenn das
richtige Wissen z. B. von Gerechtigkeit nicht das Thun nach sich zöge, Plato
hat dieselbe Lehre" (Baumann 1879, 97). Er sieht die richtige Erkenntnis nur
als notwendige, nicht aber als hinreichende Bedingung richtigen Handelns.
Abschließend wendet sich N. gegen Schopenhauers These, jeder könne sogar
die Rolle des moralischen Richters übernehmen, da er „Gutes und Böses genau
kenne" (109, 25 f.). N. zitiert diesen Passus ausführlich aus Schopenhauer 1864,
433 f.