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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0229
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214 Morgenröthe

Stärke des natürlichen Mitgefühls, das selbst die entartesten Sitten Mühe ha-
ben zu zerstören". Deshalb leitet Rousseau alle sozialen Tugenden aus dem
Mitleid als der fundamentalen Kardinaltugend ab: „In der Tat, was sind die
Freigebigkeit, die Klugheit, die Menschlichkeit, wenn nicht das auf die Schwa-
chen, die Schuldigen oder das ganze Menschengeschlecht übertragene Mitleid?
[...] Es ist demnach gewiß, daß das Mitleid ein natürliches Gefühl ist, das in
jedem Individuum das Wirken der Eigenliebe mäßigt und zur wechselseitigen
Erhaltung der gesamten Gattung beiträgt. Gerade das Mitleid bringt uns dazu,
ohne Nachdenken denen zu Hilfe zu kommen, die wir leiden sehen" (Rousseau
1971, 176 f.). N. versucht mit einer historisierenden Darstellung den Zusammen-
hang von Mitleid und Moral zu unterlaufen, Rousseau dagegen insistiert da-
rauf, dass Mitleid eine reine Regung der Natur und ein „natürliches Gefühl"
sei und insofern eine primordiale moralische Ordnung begründe.
Zu John Stuart Mill (123, 29) vgl. NK M 106. Mill machte in seinem Utilitaria-
nism, dessen zeitgenössische deutsche Übersetzung N. in seiner persönlichen
Bibliothek besaß, nicht, wie N. schreibt, bloß den „Nutzen Anderer" zum „Prin-
cip des Handelns", sondern den übergreifenden gesellschaftlichen und damit
auch den Einzelnen fördernden Nutzen. Wie schon in M 9, M 107 und M 108
ist N. auf den „Einzelnen" (124, 9; 124, 11) bedacht, auf das von ihm prinzipiell
antigesellschaftlich definierte „ego" (124, 20), auf das isolierte „Individu-
um" (124, 25), während fast die ganze philosophische Tradition seit Platons
Politeia und seit Aristoteles' Definition des Menschen als eines gesellschaftli-
chen Wesens (ζώον πολιτικόν) ein diametral entgegengesetztes Menschenver-
ständnis vertrat. Doch ist N.s radikaler Individualismus selbst wieder aus ge-
sellschaftlichen Kontexten zu verstehen. Wie N. erkennen lässt, reagiert er mit
seiner individualistischen Position, die nicht etwa bloß auf ,liberalen' Spielräu-
men des Individuums besteht, auf die sozialen und demokratischen Forderun-
gen, die sich seit der Französischen Revolution immer deutlicher abzeichneten
und bis hin zu sozialistischen Bewegungen führten - N. spricht bezeichnender-
weise von „socialistischen Systemen" (124, 4): Wie auch sonst meistens geht er
nicht von der gesellschaftlichen Realität aus, also von der Verelendung breiter
Volksschichten, von den Hungersnöten, Armutsaufständen und großen Aus-
wanderungswellen im 19. Jahrhundert, nachdem es zu einem starken Bevölke-
rungswachstum gekommen war und nachdem die Industrialisierung und das
frühkapitalistische Wirtschaftssystem eine verschärfte Ausbeutungspraxis mit
sich gebracht hatten. Deshalb sieht er auch nicht, dass die sozialen und demo-
kratischen Bewegungen und Parteibildungen in Reaktion auf diese Verhältnis-
se entstanden. N. fixiert sich stattdessen ideengeschichtlich auf „Lehren" (124,
1; 124, 5), die er zu „Vorurtheilen" erklärt (124, 6) und in der „Moral" ausge-
formt findet. Diese leitet er ihrerseits wieder ideengeschichtlich aus Mitleids-
Theorien her.
 
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