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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0241
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226 Morgenröthe

keitsdrang verbunden zu sein pflegt, und oft ebenso blind verfährt, wie jene
passive Hingebung. Liebe heisst allerdings das fremde Ich nachbilden und ihm
nachfühlen können und daraus zu entsprechender Bethätigung erregt werden,
aber sie schliesst nicht ein [hier widerspricht N.], dass das eigene Ich gleichsam
leer sei oder seine Fülle blind ergiessen wolle. Wenn man aber solchen Inhalt
eigener Werthschätzung aller Hauptseiten menschlichen Seins und von da aus
Bethätigung auf Grund der Anerkennung der Gleichheit menschlicher Natur
unter Liebe versteht, so ist der Ausdruck Princip der Liebe für unser Mo-
ralprincip unverfänglich" (Baumann 1879, 119 f.). Hier kommentiert N. kritisch:
„Und diesen Vorgang, im höchsten Sinne verstanden, nennt man beidemal mit
Einem Worte: Liebe, - wie? die Liebe sollte etwas Unegoistisches sein?" (137,
6^9).
146
137, 11 Auch über den Nächsten hinweg.] Dieser Text empfiehlt den
angeblich freigeisterischen Mut, Menschen „aufzuopfern" (137, 28). Um „ent-
fernterer Zwecke" willen (137, 18) sei das „Leid des Anderen" (137, 19) ein-
zukalkulieren. Das „Mitleid" (138, 12), gegen das sich die vorausgehenden
Texte (ab M 132) richten, wird vom Philosophen im Bewusstsein seiner Superio-
rität, aus dem er schon früher die Sklaverei bejahte (vgl. ΝΚ M 132), zum Aus-
druck „kleinbürgerlicher Moral" erklärt (137, 15; 137, 25). Diese Polemik bezieht
sich in der Vorstufe zu M 146 explizit auf Spencer 1879, 84 (vgl. KSA 14, 213).
Spencer hatte geschrieben, das „Wesen des wahrhaft Moralischen" liege darin,
„dass wir die nächsten und unmittelbarsten Folgen unserer Handlungen für
den Anderen in's Auge fassen und uns darnach entscheiden". N. steht mit sei-
ner These auch im Widerspruch zu dem von ihm vielfach benutzten Handbuch
der Moral von Johann Julius Baumann (NPB). Baumann hält es für unsittlich,
wenn jemand „die Menschheit wie ein Abstractum" behandelt, so dass er „ge-
genüber den einzelnen lebendigen Menschen rücksichtslos und lieblos ist, um
einer gedachten oder gehofften Menschheit zu dienen" (Baumann 1879, 135).
Im Zarathustra-Kapitel ,Von der Nächstenliebe' (KSA 4, 77 f.) wertet N. die
Nächstenliebe zugunsten der „Fernsten-Liebe" ab. Es beginnt mit folgenden
Sätzen: „Ihr drängt euch um den Nächsten und habt schöne Worte dafür. Aber
ich sage euch: eure Nächstenliebe ist eure schlechte Liebe zu euch selber. / Ihr
flüchtet zum Nächsten vor euch selber und möchtet euch daraus eine Tugend
machen: aber ich durchschaue euer ,Selbstloses'. / Das Du ist älter als das Ich;
das Du ist heilig gesprochen, aber noch nicht das Ich: so drängt sich der
Mensch hin zum Nächsten. / Rathe ich euch zur Nächstenliebe? Lieber noch
rathe ich euch zur Nächsten-Flucht und zur Fernsten-Liebe! / Höher als die
 
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