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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0242
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Stellenkommentar Zweites Buch, KSA 3, S. 137 227

Liebe zum Nächsten ist die Liebe zum Fernsten und Künftigen" (77, 2-13). Und
das Kapitel schließt: „Die Zukunft und das Fernste sei dir die Ursache deines
Heute: in deinem Freunde sollst du den Übermenschen als deine Ursache lie-
ben. / Meine Brüder, zur Nächstenliebe rathe ich euch nicht: ich rathe euch
zur Fernsten-Liebe" (78, 30-79, 2).
N. deklariert die Absage an das Mitleid wie überhaupt an menschliche Re-
gungen als heroischen Akt. Er zielt auf das schon mehrfach beschworene „Ge-
fühl der menschlichen Macht" (138, 18) und zwar um des bloßen Gefühls
willen (138, 19: „gesetzt auch, dass wir nicht Mehr erreichten"). Der „fernere
Zweck", der die Mittel sogar dann heiligt, wenn sie aus Menschenopfern beste-
hen, entpuppt sich daher als die Gewinnung eines bloßen „Gefühls", eben des
„Gefühls der Macht". N. geht es nicht etwa, wie Machiavelli, dessen Werk II
principe er assoziiert, um reale staatliche oder fürstliche (137, 29) Macht, son-
dern um ein subjektives „Gefühl der Macht": um das „Glück" (138, 20) des
Selbstgenusses in diesem Gefühl der Macht - um eine Stärkung des Ego, das
er in mehreren vorausgehenden Texten der Morgenröthe bereits beschworen
hatte.
In Jenseits von Gut und Böse 258 (KSA 5, 206, 24-207, 8) verschärft N. den
Wunsch nach der Aufopferung anderer Menschen noch. Geopfert werden soll
nun eine „Unzahl Menschen", die zu „Sklaven" erniedrigt werden müssen, da-
mit sich die Aristokratie ihrer bedienen könne: „Das Wesentliche an einer gu-
ten und gesunden Aristokratie ist aber, dass sie sich nicht als Funktion (sei
es des Königthums, sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen Sinn und
höchste Rechtfertigung fühlt, - dass sie deshalb mit gutem Gewissen das Opfer
einer Unzahl Menschen hinnimmt, welche um ihretwillen zu unvollstän-
digen Menschen, zu Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt und vermindert
werden müssen. Ihr Grundglaube muss eben sein, dass die Gesellschaft nicht
um der Gesellschaft willen dasein dürfe, sondern nur als Unterbau und Gerüst,
an dem sich eine ausgesuchte Art Wesen zu ihrer höheren Aufgabe und über-
haupt zu einem höheren Sein emporzuheben vermag: vergleichbar jenen son-
nensüchtigen Kletterpflanzen auf Java - man nennt sie Sipo Matador -, welche
mit ihren Armen einen Eichbaum so lange und oft umklammern, bis sie end-
lich, hoch über ihm, aber auf ihn gestützt, in freiem Lichte ihre Krone und ihr
Glück zur Schau tragen können". N. sagt nicht, von wem die „ausgesuchte Art
Wesen" ausgesucht wird, nicht, was „ihre höhere Aufgabe" ist, und auch
nicht, welches „höhere Sein" ihnen angeblich zukommt. Die Metaphorik läuft
auf eine unfreiwillige Ironisierung der Aristokratie hinaus: In der Botanik wer-
den Kletterpflanzen, die ihre Wirtspflanzen ruinieren, „Schmarotzer" genannt.
Abgesehen davon, dass auf Java zwar Zuckerrohr, Kakao-Sträucher und Pal-
men, aber keine Eichen wachsen, eignet sich überdies die Metapher des „Eich-
 
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