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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0283
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268 Morgenröthe

te. Madame de Guyon (1648-1717) fand zahlreiche Anhänger für ihre quietisti-
sche, d. h. vorwiegend passive Frömmigkeitshaltung, die den „inneren Weg"
(„la voie interieure") suchte, um zur mystischen Vereinigung mit Gott zu gelan-
gen. In einer bedeutenden Tradition christlicher Mystik, welche die Vereini-
gung, die unio mystica der ,bräutlichen Seele' mit Christus in erotischer Verzü-
ckung preist, steigerte sie sich bis zu schwärmerischen Ergießungen in ihrer
Autobiographie La vie de Madame J. Μ. B. de la Mothe Guion. Ecrite par elle-
meme, die um 1694 entstand, aber erst 1820 publiziert wurde. Ihre Erbauungs-
schriften kursierten schon vorher in zahlreichen Abschriften, darunter die
Traktate Moien court et tres facile de faire oraison (Kurze und leichte Anweisung
zum Gebet; 1685) und Les torrents spirituels (Die geistlichen Gießbäche). N.s
Versuch, „jene jüdische Zudringlichkeit, welche Paulus gegen Gott hat", mit
der „feinen, vornehmen, altfranzösischen Naivität in Wort und Gebärde" zu
kontrastieren (165, 31-166, 1), ist in beiden Richtungen tendenziös; im Hinblick
auf Madame de Guyon schon deshalb, weil sie sich in ihrer Autobiographie
sehr weitgehenden erotischen Vorstellungen von der unio mystica hingab,
nachdem sie, sehr früh verheiratet, unter ihrer Ehe gelitten hatte. N. kannte
die Texte wahrscheinlich nicht selbst, sondern orientierte sich, wie so oft, nur
an sekundären Darstellungen.
Der alsbald folgende Hinweis auf den „Gründer der Trappistenklöster", der
„mit dem asketischen Ideale des Christenthums letzten Ernst gemacht hat"
(166, 2 f.), gilt Armand Jean le Bouthillier de Rance (1626-1700), der nach einer
weltlichen Lebens-Phase 1664 Abt des Zisterzienser-Klosters La Trappe wurde
und eine radikal asketische Reform des Klosterlebens durchführte. Sie ver-
pflichtete die Mönche zu dauerndem Schweigen, vegetarischer Nahrung und
harter Feldarbeit. Längst vorher gab es streng asketische Mönchsorden, so den
vom hl. Bruno von Köln gegründeten Kartäuserorden, der nach dem 1084 ent-
standenen Stammkloster der Grande Chartreuse benannt wurde. Schon das Ur-
christentum kannte extrem asketische Formen des gottgeweihten Lebens. Am
bekanntesten sind die Anachoreten, die sich in die ägyptische Wüste zurückzo-
gen, um fern von allem Weltleben spirituelle Vervollkommnung zu erreichen.
Auch das kurz nach dem Hinweis auf die Trappistenklöster von N. genannte
Zisterzienserinnenkloster Port Royal des Champs (bei Paris), das, wie schon
erwähnt, nach einer strengen Reform im Laufe des 17. Jahrhunderts zum religi-
ösen Zentrum des Jansenismus wurde, ermöglichte ein Leben nach Art der Ein-
siedler (Solitaires). Zu ihnen gehörte Pascal.
Etwas erratisch, weil nicht auf einzelne Gestalten und „Typen" konzent-
riert, wirkt in dieser Sphäre religiöser Gestalten und der von ihnen ausgehen-
den Bewegungen - alle gehören dem französischen 17. Jahrhundert an - die
Erwähnung der Hugenotten: der französischen Protestanten, die 1559 auf der
 
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