Stellenkommentar Drittes Buch, KSA 3, S. 180-185 291
mischt N. seiner Empfehlung ein wenig Romantik ebenso bei wie er die in den
letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erkennbare und bis zum Exotismus
gehende Abkehr von einem alten, müde gewordenen Europa adaptiert, damit
„draussen eine wilde schöne Natürlichkeit" (185, 15 f.) gedeihen könne.
207
185, 31 Verhalten der Deutschen zur Moral.] Mit diesem Text kehrt
N. am Ende des ,Dritten Buchs' wieder zum Haupt-Thema der ,Moral' zurück.
Allerdings traktiert er nicht die im Titel seiner Schrift angekündigten „morali-
schen Vorurtheile". Er diagnostiziert vielmehr die ,Moralität' der Deutschen als
eine Eigenschaft: als „Hang zum Gehorsam" (187, 25 f.). „Gehorchen" ist das
Leitmotiv des größeren Anfangsteils, der allerdings durch die Vermischung mit
kritischen Einlassungen zu anderen unangenehmen Eigenschaften der Deut-
schen etwas verworren gerät: „Aberglauben" und „Lust, zu glauben", Trunk-
sucht und einseitige Hingabe an das Irrationale, wie sie sich im „übermässigen
Gebrauch der Musik" manifestiert (187, 6-12). In den frühen Basler Vorträgen
Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten hatte N. noch selbst den bedin-
gungslosen Gehorsam in einer extrem autoritären Form gefordert, Vortrag V
KSA 1, 750, 18-23. In der Vorrede zur Morgenröthe konstatiert er dagegen kri-
tisch (12, 25-28): „In Gegenwart der Moral soll eben, wie Angesichts jeder
Autorität, nicht gedacht, noch weniger geredet werden: hier wird - ge-
horcht!" Dem entspricht schon M 9: „Was ist das Herkommen?" fragt er, und
antwortet: „Eine höhere Autorität, welcher man gehorcht [...], weil sie be-
fiehlt" (22, 17-20), und zwar nicht, „weil sie das uns Nützliche befiehlt,
sondern weil sie befiehlt". Wiederum ganz anders und in eklatantem Wider-
spruch zu der im vorliegenden Text kritisierten Tendenz der „Deutschen" zum
Gehorchen und zum Gehorsam wertet er das „Gehorchen" ganz positiv, wenn
er in M 60, im Hinblick auf die „mächtige Schönheit und Feinheit der Kirchen-
fürsten" feststellt „man hat im Gehorchen seinen Stolz, was das Auszeich-
nende aller Aristokraten ausmacht" (61, 5-9).
In der abschließenden Partie (187, 29-188, 34) kontrastiert N. wiederum -
wie schon in einigen vorangehenden Texten - die antike Haltung mit der deut-
schen, hier mit der deutschen Neigung zum Gehorsam. Dafür glaubt er Deut-
sche wie Luther (188, 5), Kant (188, 10) und Schopenhauer (188, 21) mit dem
pauschal genannten „antiken Philosophien]" (188, 19 f.) zum Nachteil der deut-
schen Philosophen vergleichen zu können. Diese Partie beginnt mit dem Satz:
„Gar der antike Philosoph! Nil admirari - in diesem Satze sieht er die Philoso-
phie" (188, 19 f.). Die Losung „nil admirari" („Nichts anstaunen") greift N.
schon in UB IV: Richard Wagner in Bayreuth auf (KSA 1, 462, 11). Sie stammt
mischt N. seiner Empfehlung ein wenig Romantik ebenso bei wie er die in den
letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erkennbare und bis zum Exotismus
gehende Abkehr von einem alten, müde gewordenen Europa adaptiert, damit
„draussen eine wilde schöne Natürlichkeit" (185, 15 f.) gedeihen könne.
207
185, 31 Verhalten der Deutschen zur Moral.] Mit diesem Text kehrt
N. am Ende des ,Dritten Buchs' wieder zum Haupt-Thema der ,Moral' zurück.
Allerdings traktiert er nicht die im Titel seiner Schrift angekündigten „morali-
schen Vorurtheile". Er diagnostiziert vielmehr die ,Moralität' der Deutschen als
eine Eigenschaft: als „Hang zum Gehorsam" (187, 25 f.). „Gehorchen" ist das
Leitmotiv des größeren Anfangsteils, der allerdings durch die Vermischung mit
kritischen Einlassungen zu anderen unangenehmen Eigenschaften der Deut-
schen etwas verworren gerät: „Aberglauben" und „Lust, zu glauben", Trunk-
sucht und einseitige Hingabe an das Irrationale, wie sie sich im „übermässigen
Gebrauch der Musik" manifestiert (187, 6-12). In den frühen Basler Vorträgen
Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten hatte N. noch selbst den bedin-
gungslosen Gehorsam in einer extrem autoritären Form gefordert, Vortrag V
KSA 1, 750, 18-23. In der Vorrede zur Morgenröthe konstatiert er dagegen kri-
tisch (12, 25-28): „In Gegenwart der Moral soll eben, wie Angesichts jeder
Autorität, nicht gedacht, noch weniger geredet werden: hier wird - ge-
horcht!" Dem entspricht schon M 9: „Was ist das Herkommen?" fragt er, und
antwortet: „Eine höhere Autorität, welcher man gehorcht [...], weil sie be-
fiehlt" (22, 17-20), und zwar nicht, „weil sie das uns Nützliche befiehlt,
sondern weil sie befiehlt". Wiederum ganz anders und in eklatantem Wider-
spruch zu der im vorliegenden Text kritisierten Tendenz der „Deutschen" zum
Gehorchen und zum Gehorsam wertet er das „Gehorchen" ganz positiv, wenn
er in M 60, im Hinblick auf die „mächtige Schönheit und Feinheit der Kirchen-
fürsten" feststellt „man hat im Gehorchen seinen Stolz, was das Auszeich-
nende aller Aristokraten ausmacht" (61, 5-9).
In der abschließenden Partie (187, 29-188, 34) kontrastiert N. wiederum -
wie schon in einigen vorangehenden Texten - die antike Haltung mit der deut-
schen, hier mit der deutschen Neigung zum Gehorsam. Dafür glaubt er Deut-
sche wie Luther (188, 5), Kant (188, 10) und Schopenhauer (188, 21) mit dem
pauschal genannten „antiken Philosophien]" (188, 19 f.) zum Nachteil der deut-
schen Philosophen vergleichen zu können. Diese Partie beginnt mit dem Satz:
„Gar der antike Philosoph! Nil admirari - in diesem Satze sieht er die Philoso-
phie" (188, 19 f.). Die Losung „nil admirari" („Nichts anstaunen") greift N.
schon in UB IV: Richard Wagner in Bayreuth auf (KSA 1, 462, 11). Sie stammt