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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0320
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Stellenkommentar Viertes Buch, KSA 3, S. 202-203 305

Nachlass-Text 6[31], KSA 9, 201, 14-19), sondern als individuelle psychische
Reaktionsbildung. Der Text ist transparent auf Schopenhauers Schicksal, ent-
hält aber auch ein gut Teil Selbstreflexion. In einem nachgelassenen Notat von
Ende 1880 schreibt N.: „Ich bin passionirt für die Unabhängigkeit,
ich opfere ihr alles - wahrscheinlich weil ich die abhängigste Seele habe und
an allen kleinsten Stricken mehr gequält werde als andere an Ketten" (7[91],
KSA 9, 335). Die abschließende Rede von demjenigen, der „Nichts gefunden
hat, als sich selber", entspricht insbesondere N.s Bewusstsein von seiner Situa-
tion als Verfasser der Morgenröthe und von seiner Einschätzung im Hinblick
auf die der Vollendung entgegengehende Fröhliche Wissenschaft. In einem
Brief vom 10. Juni 1882 an Paul Ree schreibt er: „mihi ipsi scripsi" - „für mich
selbst habe ich geschrieben" (KSB 6/KGB ΙΙΙ/1, Nr. 238). Zugleich wird dadurch
„Unabhängigkeit" mit „Selbstbeherrschung" gleichgesetzt, was den Gedanken
der Selbstgesetzgebung wieder aufruft, den N. bereits in M 187 artikuliert hat.
Vgl. auch M 251.

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202, 26 Die zwei Richtungen.] In M 121 schreibt N.: „unser Intellect ist
ein Spiegel" (115, 10). Die von ihm nunmehr behauptete „Geschichte der Er-
kenntniss" zielt auf die prinzipielle Unmöglichkeit von Erkenntnis sowohl im
Hinblick auf das subjektive Reflexionsvermögen, das mit dem „Spiegel" ge-
meint ist, als auch auf das Wesen der „Dinge", die sich nicht „fassen" lassen.
Das durch das doppelte „Nichts" pointierte Resultat markiert einen erkenntnis-
theoretischen Nihilismus. Im Hintergrund der Rede von den „Dingen", deren
Wesen der Erkenntnis unzugänglich bleibt, steht Kants metaphysische Annah-
me des „Dings an sich", die N. später ausdrücklich zurückweist.

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203, 4 Freude am Wirlclichen.] Obwohl sich N. in der Morgenröthe, wie
schon in Menschliches, Allzumenschliches, oft der „Wirklichkeit" programma-
tisch zuwendet und damit eine vom Positivismus in der Wissenschaft bis zum
Realismus und Naturalismus in der Literatur reichende aktuelle Zeittendenz
aufnimmt, äußert er hier bereits ein Unbehagen an der „Wirklichkeits"-Fixie-
rung. Er diagnostiziert einen „nicht unbedenklichen Hang" (203, 7 f.), nämlich
denjenigen zum Unkünstlerisch-Groben und Trivialen, und befürchtet ein Ver-
fahren „ohne Wahl und Feinheit" sowie eine entsprechende Gesinnung, wel-
che die Gefahr der „Geschmacklosigkeit" birgt (203, 8 f.). Damit folgt er der
 
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