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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0321
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306 Morgenröthe

Diagnose, die Heine, u. a. in seinem Versepos Atta Troll, gestellt hatte. N. be-
nennt hierdurch auch eine Problematik, der zur gleichen Zeit Autoren des sog.
„poetischen Realismus" zu begegnen suchten, indem sie die in ihren Werken
dargestellte „Wirklichkeit" ,poetisch' überhöhten. Zu diesen gehörten die von
N. hochgeschätzten Autoren Adalbert Stifter und Gottfried Keller sowie Fonta-
ne. Hierzu ausführlich der Kommentar zu Μ 433. Zugleich reflektiert N. den
Realismus historisch als Reaktion: als Hinwendung zur „Wirklichkeit" aus
Überdruss an einer Romantik, die am Phantastisch-„Unwirklichen" ihre Freude
hatte. Diese antiromantische Reaktion bestimmt den Realismus in der Tat sehr
weitgehend. Hierzu auch der Überblick in NK zu Μ 307.

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203, 11 Feinheit des Machtgefühls.] Zur Verbindung von „Feinheit" und
Machtgefühl vgl. bereits Μ 23 sowie den Kommentar hierzu. Schon in einer
Reihe früherer Texte und noch mehr in den folgenden fällt N.s besonderes Inte-
resse an der Macht und am „Gefühl der Macht" auf. Die Behauptung, dass
Napoleon schlecht sprach, konnte N. in der zeitgenössischen Napoleon-Litera-
tur finden. Auch dass er ihn „zu der antiken Menschheit" rechnet (203, 27),
geht auf die übliche antikisierende Stilisierung Napoleons zurück. Sie hatte
sich in der Zeit seines Kaisertums bis in den Empire-Stil hinein ausgeprägt.
Dass N. von der „Feinheit" des Machtgefühls im Hinblick auf Napoleons Kom-
pensationsstrategien handelt, die er aufgrund seiner Schwierigkeiten beim
Sprechen entwickelt habe, korrespondiert der psychologisierenden Methode,
mit der N. den Schein zu entlarven sucht, indem er nach moralistischer Tradi-
tion Verborgenes ans Licht bringt.

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204, 2 Aristoteles und die Ehe.] Die Aristoteles zugeschriebene Bemer-
kung „Bei den Kindern der grossen Genie's bricht der Wahnsinn heraus, bei
den Kindern der grossen Tugendhaften der Stumpfsinn" (204, 2-4) entspricht
weder dem Wortlaut noch der Intention des Aristoteles. In seiner Rhetorile (II
15, 1390 b, 27-31) unterscheidet er zwischen Nachkommen von hochtalentierten
Vorfahren und solchen, die von weniger begabten Vorfahren abstammen. Als
Beispiele für die ersteren nennt er als Vorfahren Alkibiades und Dionysios I.,
den Tyrannen von Syrakus, für die letzteren Kimon, Perikles und Sokrates. Die
Nachkommen der Hochtalentierten entarten nach Aristoteles eher zu einem
manischen Verhalten, die Nachkommen der anderen tendieren eher zu Dumm-
 
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