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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0333
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318 Morgenröthe

Achtzigerjahren auf autoritäre Herrschaftsformen. Obwohl er generell gegen
die „Moral" zu Felde zieht, um sie als vorurteilshaft zu entlarven, fordert er
nun „eine Moral [!] mit der Absicht, eine regierende Kaste zu züchten - die
zukünftigen Herren der Erde" (NL 1885, 37[8], KSA 11, 582, 4-6). Voraus-
setzung dafür sei, dass dieses Züchtungsziel durch eine „Umkehrung der Wer-
te" ermöglicht werde, also durch N.s eigenes Projekt. So entstehe eine „Rasse
[...] jenseits von gut und böse; ein Treibhaus für sonderbare und ausgesuchte
Pflanzen" (NL 1887, 9[153], KSA 12, 426, 8-13). Der Begriff der ,Rasse' verliert
hier seinen ursprünglichen Sinn, da N. ihn nicht auf eine größere Gruppe von
Menschen bezieht, sondern auf nur wenige, im Treibhaus gedeihende „sonder-
bare und ausgesuchte Pflanzen" - auf eine kleine Kaste, die sich selbst zur
Elite deklariert. Sie ist wesentlich durch Privilegierung, nicht durch Leistung
und Auszeichnung definiert. In seiner Spätschrift Der Antichrist übernimmt N.
den Preis des Kastenwesens aus einem unseriösen Machwerk (Jacolliot 1876,
NPB), um daraus leitmotivisch das „Vorrecht" der „obersten Kaste" zu legiti-
mieren (KSA 6, 242, 15-243, 34). N.s Fazit lautet: „Ein Recht ist ein Vorrecht"
(243, 33).
Auch wenn sich N.s Vorstellungen von „Rasse" und „Züchtung" nicht für
die späteren Konsequenzen des Rassenwahns verantwortlich machen lassen,
und auch wenn seine schon früh formulierten Phantasien von Herrenmen-
schen und „Führern" (KSA 1, 750, 10-32) nicht unmittelbar auf das nationalso-
zialistische Terror-Regime zu beziehen sind, steht er hiermit doch - und nicht
nur aufgrund der späteren breiten und oft einseitigen Rezeption - in einem
historischen Wirkungszusammenhang, der sich nicht ,philosophisch' überspie-
len lässt. Historisch genau fassbar sind die zeitgenössischen Kontexte. N.s eige-
ne Texte sind eng mit ihnen verwoben, doch wollte er sich selbst als ,Unzeitge-
mäßer', als Vordenker und Prophet in Stellung bringen. In der enthemmten
Aggressivität von Ecce homo, wo er seine eigene Mutter als „Canaille" bezeich-
net, die der „Göttlichkeit" ihres Sohnes nicht würdig sei, führt er seine Züch-
tungsphantasien bis zu einem Punkt fort, an dem der Begriff „Selection" be-
reits die Bedeutung annimmt, die er in Auschwitz erhielt. Die „grösste aller
Aufgaben, die Höherzüchtung der Menschheit [...], eingerechnet die scho-
nungslose Vernichtung alles Entartenden" (KSA 6, 313, 19-21) schwebte ihm
vor, samt der „Partei", die dies ausführen sollte, und samt dem in allen seinen
Schriften verherrlichten „Krieg".
In den Achtzigerjahren verschärften sich die seit Gobineau verbreiteten
Rassenlehren. Sie gehören zum zeitgenössischen Kontext; dies gilt insbesonde-
re für die naturalistisch formierte „Arier"-Ideologie. Ein symptomatisches Bei-
spiel ist das zwar erst 1899 herausgegebene, aber auf frühere Vorlesungen zu-
rückgehende Buch von Vacher de Lapouge: L'Aryen, son röle social (,Der Arier
 
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