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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0334
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Stellenkommentar Viertes Buch, KSA 3, S. 213 319

und seine gesellschaftliche Rolle'). N. griff solche Rassenlehren in seiner
Schrift Zur Genealogie der Moral (1887) auf. Ein Vergleich mit Μ 272 lässt die
fortschreitende naturalistische Vergröberung und die ideologische Radikalisie-
rung erkennen. N. beschwört in der späteren Schrift „die Eroberer- und Her-
ren-Rasse, die der Arier" als politisches Ideal angesichts der „modernen De-
mokratie" und des „noch moderneren Anarchismus" verkörpere (KSA 5, 264,
3-8). Wie Vacher de Lapouge versucht auch N., die aus der antimodernen und
politisch motivierten Reaktion entworfene Vorstellung vom Arier auf das Ge-
genbild der „unterworfenen Rasse" mit biologischen Merkmalen zu charakteri-
sieren, etwa mit der Schwarzhaarigkeit und der „Kürze des Schädels" bei der
„unterworfene[n] Rasse" (KSA 5, 263, 34-264, 1). Nur das Blut des arischen
langschädligen Menschen, so sagt er, sei schöpferisch-genial. Lapouge ver-
band den Rassenkampf schon mit dem Problem des Lebensraums, innenpoli-
tisch empfahl er „systematische Auslese" (~ Selektion) mittels bestimmter In-
jektionen.
Derartiges fand sich auch bei zahlreichen englischen und vor allem ameri-
kanischen Theoretikern. Einschlägige Publikationen im deutschen Sprach-
raum: Ludwig Gumplowicz: Der Rassenkampf (1883) und Rasse und Staat
(1875). Schon 1842 schrieb Auguste Comte, der Begründer der Soziologie, in
seinem Cours de Philosophie positive (die deutsche Übersetzung Einleitung in
die positive Philosophie hatte N. in seiner persönlichen Bibliothek, ebenso John
Stuart Mills Abhandlung Auguste Comte und der Positivismus), dass allein die
Fortführung der phrenologischen Physiologie im Sinne der Gallschen Schädel-
lehre ,positive' Einsichten in psychologische Vorgänge ermögliche; 1867 eröff-
nete der Chirurg Paul Broca in Paris ein anthropologisches Laboratorium, in
welchem nach einer von ihm entwickelten Methode vergleichende Messungen
an Schädeln von Menschen verschiedener Rassen durchgeführt wurden. Broca
begründete auch die Societe d'anthropologie, als deren Zweig die Ethnologie
die Aufgabe erhielt, die Gesellschaftsformen und Kulturen ,primitiver' Völker
zu erforschen, um dadurch zur Erkenntnis der vermeintlichen Gesetzmäßigkeit
aller Gesellschaftsentwicklung und Kulturentwicklung zu gelangen. In diese
Sphäre gehört auch das von N. für die Morgenröthe mehrmals herangezogene
Werk von John Lubbock (vgl. Μ 16). Dem weiteren Kontext zuzurechnen ist das
von Gustave Le Bon, dem später berühmten Autor der Psychologie der Massen
(1895, Psychologie des foules), herausgegebene und ebenfalls vom Entwick-
lungsgedanken beherrschte Werk L'homme et les societes. Leur origine et leur
histoire (1881, Der Mensch und die Gesellschaften, ihr Ursprung und ihre Ge-
schichte). In seinem Werk über die Lois psychologiques de l'evolution des peu-
ples (1894, Die psychologischen Gesetze der Völkerentwicklung) vertrat Le Bon
die Auffassung, dass die von den einzelnen Völkern entwickelten Gemein-
 
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