354 Morgenröthe
digt sagt Jesus: „Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch flu-
chen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und
verfolgen, / Auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel; denn er läßt
seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über
Gerechte und Ungerechte" (Matthäus 5, 44 f., analog Lukas 6, 27 u. 6, 35). Aus
dem Kontext des Evangeliums geht hervor, dass diese Worte der Bergpredigt
auf die Ablösung der alttestamentlichen Vergeltungsmoral durch eine neue
christliche Versöhnungsmoral zielen. Unmittelbar greifbar wird die Intention
dieser Ablösung durch die Jesus-Worte, die dem Gebot, die Feinde zu lieben,
vorausgehen: „Ihr habt gehört, daß gesagt ist [im Alten Testament]: ,Du sollst
deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen" (Matthäus 5, 43). Darauf
bezieht sich N.s psychologisierende Aussage, die Juden als „die besten Hasser"
hätten den schwärmerischen Satz „liebet eure Feinde" kompensatorisch erfin-
den müssen. Kurz vorher lehnt Jesus in der Bergpredigt die alttestamentliche
Vergeltungsmoral ab, indem er deren prägnantesten Ausdruck zitiert: „Ihr habt
gehört, daß da gesagt ist ,Auge um Auge, Zahn um Zahn"' (Matthäus 5, 38) -
gegen 3. Mose 24, 20: „Schade um Schade, Auge um Auge, Zahn um Zahn; wie
er hat einen Menschen verletzt, so soll man ihm wieder tun". Indessen lässt
der Kontext im 3. Buch Mose erkennen, dass hier nicht persönliche Rachehand-
lungen gemeint sind, sondern - entsprechend dem auf Gesetzgebung und ritu-
elle Vorschriften ausgerichteten Duktus des 2. u. 3. Buchs Mose - der für die
Rechtsprechung maßgebende Gesichtspunkt der Angemessenheit von Schuld
und Strafe.
378
246, 26 Reine Hand und reine Wand.] N. erteilt hier jedwedem von Ab-
solutsetzungen („Gott" und „Teufel") ausgehenden Denken eine Absage. Im
Horizont seiner Moralkritik, die sich gegen die vorurteilshaften ,moralischen'
Vorstellungen wendet, sind damit implizit die metaphysisch unterlegten Wer-
tungen „gut" und „böse" gemeint. Dementsprechend zielt die doppelt expo-
nierte „Reinheit" auf die moralfreie und metaphysikfreie, d. h. von Vorurteilen'
freie und insofern reine geistige Haltung des „Freidenkers" (vgl. Μ 20). Vgl. Μ
497: „Das reinmachende Auge".
379
247, 2 Wahrscheinlich und unwahrscheinlich.] Das eigentliche The-
ma dieses Textes ist die in der moralistischen Tradition gängige und in der
digt sagt Jesus: „Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch flu-
chen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und
verfolgen, / Auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel; denn er läßt
seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über
Gerechte und Ungerechte" (Matthäus 5, 44 f., analog Lukas 6, 27 u. 6, 35). Aus
dem Kontext des Evangeliums geht hervor, dass diese Worte der Bergpredigt
auf die Ablösung der alttestamentlichen Vergeltungsmoral durch eine neue
christliche Versöhnungsmoral zielen. Unmittelbar greifbar wird die Intention
dieser Ablösung durch die Jesus-Worte, die dem Gebot, die Feinde zu lieben,
vorausgehen: „Ihr habt gehört, daß gesagt ist [im Alten Testament]: ,Du sollst
deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen" (Matthäus 5, 43). Darauf
bezieht sich N.s psychologisierende Aussage, die Juden als „die besten Hasser"
hätten den schwärmerischen Satz „liebet eure Feinde" kompensatorisch erfin-
den müssen. Kurz vorher lehnt Jesus in der Bergpredigt die alttestamentliche
Vergeltungsmoral ab, indem er deren prägnantesten Ausdruck zitiert: „Ihr habt
gehört, daß da gesagt ist ,Auge um Auge, Zahn um Zahn"' (Matthäus 5, 38) -
gegen 3. Mose 24, 20: „Schade um Schade, Auge um Auge, Zahn um Zahn; wie
er hat einen Menschen verletzt, so soll man ihm wieder tun". Indessen lässt
der Kontext im 3. Buch Mose erkennen, dass hier nicht persönliche Rachehand-
lungen gemeint sind, sondern - entsprechend dem auf Gesetzgebung und ritu-
elle Vorschriften ausgerichteten Duktus des 2. u. 3. Buchs Mose - der für die
Rechtsprechung maßgebende Gesichtspunkt der Angemessenheit von Schuld
und Strafe.
378
246, 26 Reine Hand und reine Wand.] N. erteilt hier jedwedem von Ab-
solutsetzungen („Gott" und „Teufel") ausgehenden Denken eine Absage. Im
Horizont seiner Moralkritik, die sich gegen die vorurteilshaften ,moralischen'
Vorstellungen wendet, sind damit implizit die metaphysisch unterlegten Wer-
tungen „gut" und „böse" gemeint. Dementsprechend zielt die doppelt expo-
nierte „Reinheit" auf die moralfreie und metaphysikfreie, d. h. von Vorurteilen'
freie und insofern reine geistige Haltung des „Freidenkers" (vgl. Μ 20). Vgl. Μ
497: „Das reinmachende Auge".
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247, 2 Wahrscheinlich und unwahrscheinlich.] Das eigentliche The-
ma dieses Textes ist die in der moralistischen Tradition gängige und in der