Stellenkommentar Fünftes Buch, KSA 3, S. 275-278 389
Er schrieb zwar seinen Erziehungsroman Emile, in dem er die freie, natürliche
Entfaltung des Kindes als Ideal der Erziehung verkündet; er selbst aber widme-
te sich nicht einmal der Erziehung der eigenen Kinder, sondern gab sie in ein
Waisenhaus. Auch bei Schopenhauer wurde oft die Widersprüchlichkeit von
Theorie und Leben festgestellt, da er als Philosoph des Mitleids doch seinen
Mitmenschen gegenüber oft rücksichtslos, ja aggressiv auftrat (z. B. stieß er
seine Haushälterin die Treppe hinab). Allerdings bemerkte Schopenhauer in
WWV I § 68, es sei „eine seltsame Anforderung an einen Moralisten, daß er
keine andere Tugend empfehlen soll, als die er selbst besitzt." (Schopenhauer
1873, Bd. 1., 453)
460
277, 2 Seine gefährlichen Stunden ausnützen.] Der römische Kaiser
Tiberius (42 v. Chr.-37 n. Chr.) regierte in den Jahren 14-37 n. Chr. als Nachfol-
ger des Kaisers Augustus, dessen Stiefsohn er war. Tiberius galt als menschen-
scheu und argwöhnisch. - Die zitathaft in Anführungszeichen gesetzte Wen-
dung von den „,gefiederten Träumen"' (277, 16) findet sich u. a. bei Ludwig
Neuffer (einem Freund Hölderlins) häufig, so in seinem auch in Anthologien
verbreiteten Gedicht Die Nacht (Neuffer 1835, 304). In der Tragödie Hekabe des
Euripides ruft die von unheilvollen Träumen heimgesuchte Hekabe die Erde
als „Mutter der schwarzbeflügelten Träume" an (μέλανοπτεροπύγων μήτερ
όνείρων, Hekabe, V. 71).
461
277, 21 Hic Rhodus, hic salta.] Dieser lateinische Spruch („Hier ist Rho-
dus, hier springe") geht auf Äsops Fabel Der Prahler zurück, in der sich ein
großsprecherischer Athlet rühmt, er habe auf der Insel Rhodos einen gewalti-
gen Sprung getan, worauf ihm jemand die zitierten Worte zuruft. Vgl. Goethes
poetologische Abwandlung: „Hier ist Rhodos, tanze du Wicht!" („Und der Gele-
genheit schaff' ein Gedicht") (Zahme Xenien, III/2).
462
278, 4 Langsame Curen.] Den „Krankheiten der Seele" (278, 4 f.) und einer
entsprechenden Psychotherapie wandte N. schon aufgrund seiner eigenen Ge-
fährdung besondere Aufmerksamkeit zu. Daher rührt auch sein verstärktes In-
teresse an den psychotherapeutischen Strategien derjenigen antiken Philoso-
Er schrieb zwar seinen Erziehungsroman Emile, in dem er die freie, natürliche
Entfaltung des Kindes als Ideal der Erziehung verkündet; er selbst aber widme-
te sich nicht einmal der Erziehung der eigenen Kinder, sondern gab sie in ein
Waisenhaus. Auch bei Schopenhauer wurde oft die Widersprüchlichkeit von
Theorie und Leben festgestellt, da er als Philosoph des Mitleids doch seinen
Mitmenschen gegenüber oft rücksichtslos, ja aggressiv auftrat (z. B. stieß er
seine Haushälterin die Treppe hinab). Allerdings bemerkte Schopenhauer in
WWV I § 68, es sei „eine seltsame Anforderung an einen Moralisten, daß er
keine andere Tugend empfehlen soll, als die er selbst besitzt." (Schopenhauer
1873, Bd. 1., 453)
460
277, 2 Seine gefährlichen Stunden ausnützen.] Der römische Kaiser
Tiberius (42 v. Chr.-37 n. Chr.) regierte in den Jahren 14-37 n. Chr. als Nachfol-
ger des Kaisers Augustus, dessen Stiefsohn er war. Tiberius galt als menschen-
scheu und argwöhnisch. - Die zitathaft in Anführungszeichen gesetzte Wen-
dung von den „,gefiederten Träumen"' (277, 16) findet sich u. a. bei Ludwig
Neuffer (einem Freund Hölderlins) häufig, so in seinem auch in Anthologien
verbreiteten Gedicht Die Nacht (Neuffer 1835, 304). In der Tragödie Hekabe des
Euripides ruft die von unheilvollen Träumen heimgesuchte Hekabe die Erde
als „Mutter der schwarzbeflügelten Träume" an (μέλανοπτεροπύγων μήτερ
όνείρων, Hekabe, V. 71).
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277, 21 Hic Rhodus, hic salta.] Dieser lateinische Spruch („Hier ist Rho-
dus, hier springe") geht auf Äsops Fabel Der Prahler zurück, in der sich ein
großsprecherischer Athlet rühmt, er habe auf der Insel Rhodos einen gewalti-
gen Sprung getan, worauf ihm jemand die zitierten Worte zuruft. Vgl. Goethes
poetologische Abwandlung: „Hier ist Rhodos, tanze du Wicht!" („Und der Gele-
genheit schaff' ein Gedicht") (Zahme Xenien, III/2).
462
278, 4 Langsame Curen.] Den „Krankheiten der Seele" (278, 4 f.) und einer
entsprechenden Psychotherapie wandte N. schon aufgrund seiner eigenen Ge-
fährdung besondere Aufmerksamkeit zu. Daher rührt auch sein verstärktes In-
teresse an den psychotherapeutischen Strategien derjenigen antiken Philoso-