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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0469
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454 Morgenröthe

keit" (331, 14 f.) und die der „Ohnmacht" (331, 19 f.). Die „Müdigkeit" ergibt
sich aus der resignativen Einsicht in die bloße Vorläufigkeit des in der eigenen
Zeit Erreichbaren („auch mir und dir wird es so ergehen!") und des schon frü-
her von anderen Erreichten, die notwendigerweise „stehen geblieben sind".
„Müdigkeit" ist ein in der Morgenröthe und auch später immer wieder diagnos-
tiziertes Verhängnis; vgl. NK M 542. Und das oft beschworene „Gefühl der
Macht" bildet in mehreren Texten den kompensatorischen Ausgleich zur Emp-
findung der „Ohnmacht" (vgl. Μ 23). Vor diesem Hintergrund zeugt die Flug-
und Erhebungsmetaphorik vom Gestus einer heroischen (Selbst-)Überwin-
dung, die bei N. später immer mehr an Bedeutung gewinnt. Im Zarathustra,
dem schon Vieles in der Morgenröthe präludiert, steigert sich das voluntaris-
tisch bis zum „Willen zur Macht" getriebene Überwindertum zur Wunschphan-
tasie vom „Übermenschen". Besonders prägt sich dieses „Über-" in der Rede
von der Zuversicht aus, die nicht nur „hinauf" (331, 18), sondern „geradewegs
über unserm Haupte und über seiner [!] Ohnmacht in die Höhe" steigt (331,
19 f.). Wie die Metapher des „Hauptes" erkennen lässt, ist diese Ohnmacht die
des Denkens.
Das für die Gesamtkonzeption der Morgenröthe und bis in die Metaphorik
hinein auch für M 575 aufschlussreichste von den nachgelassenen Notaten (NL
1880, 6[31], KSA 9, 200 f.) exponiert nicht nur die Vorstellung des Fliegens (201,
16), nicht nur das in den Texten wiederholt ausgesprochene Bekenntnis zur
„Unabhängigkeit" und zum antigesellschaftlich definierten „Individuum", das
gleichwohl zur „herrschenden Klasse" (201, 4) gehören möchte - N. kennzeich-
net auch sich und seinesgleichen, die Freigeister, als „Nachgeborene" (201,
6 f.). Zur „Müdigkeit" und zur „Ohnmacht", die in M 575 den Gegenreflex auslö-
sen, kommt hier also das schon im Frühwerk aus der zeitgenössischen Epo-
chenreflexion übernommene Spätzeit- und Epigonen-Thema (vgl. den ausführ-
lichen Kommentar in NK 1/1, 75, 25-32). Die entsprechende Textpassage des
nachgelassenen Notats hat folgenden Wortlaut: „Nun werden immer noch sol-
che geboren, die in früheren Zeiten zu der herrschenden Klasse der Priester,
Adels, Denker gehört hätten. Jetzt überschauen sie die Vernichtung der Religi-
on und Metaphysik, Noblesse und Individual-Bedeutung. Es sind Nachgebore-
ne. Sie müssen sich eine Bedeutung geben, ein Ziel setzen um sich nicht
schlecht zu befinden. Lüge und heimliche Rückflucht zum Überwundenen,
Dienst in nächtlichen Tempeltrümmern sei ferne! [...] Sie üben sich, sich frei
von der Zeit zu machen und sie nur zu verstehen, wie ein Adler, der darüber
fliegt. Sie beschränken sich zur größten Unabhängigkeit und wollen nicht Bür-
ger und Politiker und Besitzer sein. Sie reserviren hinter allen Vorgängen die
Individuen", und N. fährt mit einem dreifachen „Wollen" fort: „Wir wollen
auch das böse Gewissen für die Wissenschaft im Dienste der Klugen [d. h. der
 
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