Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0494
Lizenz: In Copyright
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Überblickskommentar 479

menhang gemäß seinem dichterischen Selbstverständnis pointiert zum Aus-
druck. Zeigt sich hieran bereits, dass trotz der ausgestellten Gegensätzlichkeit
beider Dichtarten, des musikalischen Liedes und des boshaft-spöttischen Sinn-
spruchs, sehr wohl Mischformen möglich und von N. auch durchaus intendiert
sind, so gilt dies nicht minder für seine späteren freirhythmischen Hymnen, in
denen der Aspekt der Sprachartistik im Vordergrund steht wie in lyrischen Tex-
ten aus Za und vollends in DD sowie nachgelassenen Versen der späten 1880er
Jahre. In N.s Werk sind generell Überschneidungen zwischen liedhafter,
spruchhafter und hymnischer Lyrik möglich, so dass etwa auch hymnische
bzw. ,dithyrambische' Gedichte, wie sie vermehrt in der letzten Schaffensphase
entstehen, als - wenngleich kaum sangbare - „Lieder" firmieren und bisweilen
ebenfalls sentenziös-prägnante Formulierungen nach der Art geschliffener
Sinnsprüche enthalten (vgl. hierzu bereits Bertram 1965, 232-236). Umgekehrt
weist auch N.s liedhafte Lyrik bisweilen nicht nur sinnspruchartige, sondern
genauso sehr hymnische Elemente auf. Dies gilt nicht zuletzt für IM, etwa für
das Gedicht Vogel Albatross, in dem N. eine pathosgeladene Erhebungsmeta-
phorik entfaltet, deren virtuose sprachliche Gestaltung in Ansätzen bereits auf
DD vorausweist (vgl. NK 341, 23).
Letztlich beschränkt sich diese Neigung zum Gattungs- oder Formensyn-
kretismus aber keineswegs auf N.s lyrisches Schaffen; vielmehr betrifft sie, wie
bereits angedeutet, grundsätzlich das Verhältnis zwischen Literatur bzw. Lyrik
und Philosophie, die in seinem Gesamtwerk in enger Wechselwirkung stehen.
Letztere reicht über die rahmende oder auflockernde Einlagerung von Gedich-
ten in die philosophischen Schriften weit hinaus. So wie N.s philosophische
Prosa auf weiten Strecken literarisch („im Angesicht der Poesie") verfasst ist,
so erweist sich seine ,reife' Lyrik häufig als philosophische Dichtung. Obgleich
aufgrund des ästhetischen Eigenwerts der Gedichte nicht einfach von versifi-
zierter Philosophie gesprochen werden kann, ergeben sich doch zahlreiche in-
haltliche Verbindungen zwischen lyrischer Rede und philosophischer Reflexi-
on. Insofern ist Meyer 1991, 402 grosso modo zuzustimmen, wenn er festhält:
„Nietzsches Lyrik ist philosophische Lyrik bzw. lyrische Philosophie." Über die
gedichtimmanente, metapoetische Verhandlung der Beziehung zwischen Dich-
tung und Philosophie unter dem Gesichtspunkt von Lüge/Schein vs. Wahrheit
hinaus schließt dies etliche andere, nicht-ästhetische Aspekte von N.s Philoso-
phie mit ein, etwa das Konzept des freien Geistes, die Religions- und Kirchen-
kritik, das Verhältnis der Geschlechter und vieles mehr. Für den Kommentar
zu IM folgt daraus, dass diese thematischen Korrespondenzen zwischen den
lyrischen Texten und der Philosophie N.s in den jeweiligen Stellenkommenta-
ren zu berücksichtigen sind.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften