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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0503
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488 Idyllen aus Messina

ziiert wird). So heißt es in dem zuletzt zitierten Fragment weiter: „Die Flucht
zur Natur ist unsre Kunstmuse: aber zu der germanisch-begriffenen Na-
tur." (NL 1871, 9[76], KSA 7, 302, ll f.) Vor diesem Hintergrund ist es mithin
auch zu verstehen, wenn N. wiederum in einer anderen gleichzeitigen Notiz
aus diesem Umkreis Wagner als „radikale [n] Idylliker" (NL 1871, 9[135],
KSA 7, 324, 10) beschreibt, der eine genuin deutsche, von allen romanischen
Einflüssen bereinigte Musik anstrebt.
Während N.s affirmativer Begriff der ,tragischen' oder ,radikalen Idylle' je-
doch in den zu Lebzeiten unveröffentlichten Aufzeichnungen versteckt blieb
und in der frühen Werkphase nur seine Idyllen-Kritik ans Licht der Öffentlich-
keit gelangte, kommt in der ,mittleren' Phase ein gewandeltes Verständnis der
Idylle zum Vorschein, in dessen Kontext auch die IM gehören. So evoziert N.
1879 in Menschliches, Allzumenschliches, dem ersten Aphorismen-Werk jener
mittleren Phase, in der er seine an Wagner und Schopenhauer orientierte ro-
mantisch-metaphysische Weltanschauung hinter sich lässt und eine aufkläre-
risch-kulturpsychologische Wendung vollzieht, unter der programmatischen
Überschrift „Et in Arcadia ego" eine idyllische Hirtenlandschaft, in die er
„griechische Heroen" hineinprojiziert (vgl. hierzu auch Riedel 1998, 173 f.). Der
Kurztext beginnt im Stil eines ,sprachlichen Gemäldes' mit den Worten: „Ich
sah hinunter, über Hügel-Wellen, gegen einen milchgrünen See hin, durch
Tannen und altersernste Fichten hindurch: Felsbrocken aller Art um mich, der
Boden bunt von Blumen und Gräsern. Eine Heerde bewegte, streckte und dehn-
te sich vor mir"; dann lässt N. die obligatorischen Hirten auftreten: „Zwei dun-
kelbraune Geschöpfe, bergamasker Herkunft, waren die Hirten", um schließ-
lich die antiken Helden zu assoziieren: „unwillkürlich [...] stellte man sich in
diese reine scharfe Lichtwelt [...] griechische Heroen hinein; man musste wie
Poussin und seine Schüler empfinden: heroisch zugleich und idyllisch." N.
denkt hier, vielleicht vermittelt über eine Stelle aus Goethes Campagne in
Frankreich 1792 (vgl. Goethe 1857, 118), an Nicolas Poussins (1594-1665) Gemäl-
de Les Bergers d'Arcadie, von dem es zwei Fassungen gibt (ca. 1630 und 1638,
die erste befindet sich in der Devonshire Collection, Chatsworth, die zweite im
Louvre; N. hat keine der beiden Fassungen im Original gesehen). Da beide
Bilder antikisch idealisierte Hirten vor einer Grabplatte mit der Inschrift „ET IN
ARCADIA EGO" zeigen, werden sie gelegentlich auch mit diesem Titel bezeich-
net, worauf N. mit seiner Überschrift rekurriert - allerdings ohne die traditio-
nelle Memento-mori-Assoziation des Ausspruchs, die bei Poussin intendiert ist.
Zuallerletzt folgt in N.s Text noch ein Bekenntnis zu dem griechischen ,Garten-
philosophen' Epikur, der in der hier evozierten Weise gelebt habe - als „einer
der grössten Menschen, der Erfinder einer heroisch-idyllischen Art zu philoso-
phiren" (MA II WS 295, KSA 2, 686 f.). Die beiden grundlegenden Verschiebun-
 
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