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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0505
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490 Idyllen aus Messina

peutikum angesichts einer Krankheit, die N. stets auf den ,ganzen Menschen'
bezieht, also auf Körper, Seele und Geist zugleich. Wenngleich die Idylle derart
nicht im engeren Sinn als literarische Gattung gemeint ist, sondern Natur und
Kunst allgemein umgreift, ist dieses Verständnis des Idyllischen doch für die
Konzeption von IM wichtig. Auch die Tränen als körpersprachlicher Ausdruck
der sentimentalen Empfindung des Idyllischen tauchen wieder auf, wenn N.
über das Kompositionsprinzip dieser kleinen Gedichtsammlung am 16. Septem-
ber 1882 an Köselitz (mit Bezugnahme auf dessen Musik) schreibt: „Auch ich,
beiläufig gesagt, wurde beim Anhören Ihrer Musik, etwas begehrlich nach der
italiänischen ,Sentimentalität'. In Messina, wo ich die Luft Bellini's athmete
(Catania ist sein Geburtsort) verstand ich, daß ohne jene 3, 4 Thränen man die
Heiterkeit nicht lange aushält (Meine Idyllen aus Messina sind nach diesem
Recepte componirt.)" (KSB 6/KGB ΙΙΙ/1, Nr. 307, S. 262, Z. 40-45) Dieser Selbst-
aussage zufolge liegt den IM also jenes skizzierte heroisch-sentimentale Ver-
ständnis des Idyllischen zugrunde, das N. in der Abwendung von seinem frü-
heren Konzept der (negativ gewerteten romanisch-optimistischen bzw. positiv
gewerteten germanisch-tragischen) Idylle um 1880 entwickelt hat. In der Tat
verknüpfen die IM ,heitere', ,heroische' und ,sentimentale' Elemente.
Allerdings verwirft N. diesen heroisch-sentimentalen Begriff der Idylle wie-
der und kehrt schließlich in die Nähe zu seiner einstigen negativen Auffassung
des Idyllischen zurück. Den Hintergrund für diese erneute Kehrtwende bildet
seine im Spätwerk sich radikalisierende Decadence-Diagnose, die nun auch die
Idylle unter den Generalverdacht der ,Schwäche' stellt. Entsprechend heißt es
in einem Notat aus dem Herbst 1887, hinter dem „weichliche [n] und fei-
ge[n] Begriff ,Natur' [...], wie als ob ,Natur' [...] Idyll sei", stecke im Grunde
immer der „Cultus der christlichen Moral" (NL 1887, 10[170], KSA 12,
558, 4-13). In einem anderen Notat aus derselben Zeit stellt N. hingegen die
These auf, das „Idyll" als der „wollüstige Klang" einer „Hirtenweise" biete eine
Art Entlastung angesichts der „furchtbare[n] Härte, Gefahr und Unberechen-
barkeit, die ein Leben der männlichen Tugenden mit sich bringt", und er be-
hauptet - gegen das historische Faktum des griechischen Ursprungs der Idyl-
le -, erst „der Römer hat das idyllische Hirtenstück erfunden - d. h. nöthig
gehabt" (NL 1887, 10[157], KSA 12, 546, 25-547, 2). Obwohl sich diese Auffas-
sung gleichsam als spätere Selbstdiagnose auf N.s eigene Sehnsucht nach der
heroisch-sentimentalen Idylle in den Jahren um 1880 zurückbeziehen ließe,
nimmt er hier eine entgegengesetzte Werthaltung ein: Die Idylle erscheint da-
mit nicht mehr als Therapeutikum, das der „Gesundheit" dient, sondern als
der „Verführungsreiz eines [...] entmannten Menschheits-Ideals" (NL 1887,
KSA 12, 10[157], 546, 15 f.). Mit dem Heroismus gilt sie nunmehr als unverein-
bar: Das Idyllische bildet in dieser veränderten Betrachtungsweise geradezu
das Gegenteil des Heroischen.
 
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