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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0510
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Überblickskommentar 495

N.s Gedichte in den engeren Grenzen der lyrischen Gattung, die nach Hegel
die ,subjektivste' poetische Gattung ist. Dialogische Partien gibt es dement-
sprechend in IM nicht, stattdessen dominiert die ,unmittelbare Gefühlsaus-
sprache' unterschiedlicher lyrischer (Rollen-)Subjekte oder die pathetische
Apostrophierung eines lyrischen ,Du', das allerdings nicht antwortet.
N. wählte für seinen kleinen Gedichtzyklus auch nicht antike Strophenfor-
men und Versmaße, sondern im Wesentlichen „volkstümlich" anmutende (NH
153), sangbare Strophenformen aus drei- und vierhebigen jambischen bzw. tro-
chäischen Versen mit alternierenden Kadenzen, wobei die Strophenlänge zwi-
schen vier-, fünf-, sechs- und achtzeiligen Strophen variiert. Hierzu passt auch
das vorherrschende (in einigen Gedichten durch eingeschobene Paarreime auf-
gelockerte) Kreuzreim-Schema. Auf diese formale Orientierung an einer volks-
tümlich inspirierten Lyrik, wie sie in den Epochen des Sturm und Drang und
der Romantik modisch war, spielt N. an, wenn er die Gedichte selbst als „Lie-
der" bezeichnet, etwa im Brief an Schmeitzner Mitte Mai 1882, als er sie ihm
zum Druck anbietet, oder wenn er später den „Anhang" der Fröhlichen Wissen-
schaft, in den er die meisten Texte aus IM integriert, mit dem Titel Lieder des
Prinzen Vogelfrei versieht. Wenngleich das von Crescenzi 1997, 153 behauptete
genaue Entsprechungsverhältnis der acht Idyllen zu den acht Volksliedarten,
die Ludwig Uhland in seiner (1869 von N. gelesenen) Abhandlung über die deut-
schen Volkslieder schematisch unterscheidet (vgl. auch NLex 161), allzu kon-
struiert anmutet, ist eine gewisse - allerdings ironisch gebrochene - Nähe der
Gedichte zum Volkslied bzw. zur volkstümlichen Lyrik durchaus festzustellen.
N.s Vorliebe für das Volkstümliche und Volksliedhafte reicht bis ins Früh-
werk zurück. In etlichen nachgelassenen Aufzeichnungen aus den früheren
1870er Jahren beschäftigt er sich mit dem „Volkslied", das er für den Ursprung
der gesamten (antiken) Dichtung und Musik hält, und in der Geburt der Tragö-
die feiert er den altgriechischen Lyriker Archilochos (7. Jh. v. Chr.), bei dem sich
zum ersten Mal die Synthese des Apollinischen und Dionysischen zeige, als
denjenigen, der „das Volkslied in die Litteratur eingeführt" hat (GT 5, KSA
1, 48, 9 f.). Insbesondere bringt der junge N. das Volkslied auch mit Richard
Wagner in Verbindung, wodurch bereits das Volkslied in die Nähe der Idylle
rückt - hier noch der tragischen Idylle, wie sie in Wagners ,Rückkehr zur Na-
tur' zum Vorschein komme. In einem Notat aus dem Jahr 1871 fragt sich N.
sogar, ob „das Volkslied" die „einzige ächte Form der Kunst" sei, und er fügt
hinzu: „Es wirkt auf uns durch das Medium des Idyllisch-Elegi-
schen." (NL 1871, 9[85], KSA 7, 304, 25-27) Im Rahmen seiner Überlegungen
zum Volkslied reflektiert N. auch auf das entsprechende Verhältnis zwischen
Goethe und Wagner. Noch in einer Aufzeichnung von 1875 erhebt er Wagner
über Goethe, indem er ihm (im Widerspruch zu den oben zitierten früheren
 
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