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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0514
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Überblickskommentar 499

Insgesamt ist festzuhalten, dass N.s Idyllen zwar auf den ersten Blick (zu-
mindest mehrheitlich) als ,kunstlos-naive', volkstümliche „Lieder" daherkom-
men, bei näherem Hinsehen jedoch eine ausgefeilte ästhetische Faktur erken-
nen lassen, die von zahlreichen rhetorischen Figuren und Tropen geprägt ist.
Sie tragen sowohl dazu bei, jenen Eindruck des Volkstümlich-Schlichten auf
raffinierte Weise zu erzeugen, als auch dazu, durch Komisierung und Ironie
auf Distanz zum Dargestellten zu gehen: ein dichterisches Verfahren, das N.
nicht zuletzt durch den von ihm hoch geschätzten Heinrich Heine kannte, der
in seinen Gedichten immer wieder den romantischen ,Volkston' adaptiert, um
diesen sodann ironisch zu unterlaufen.
In EH schreibt N. später: „Die Lieder des Prinzen Vogelfrei, zum
besten Theil in Sicilien gedichtet, erinnern ganz ausdrücklich an den provenga-
lischen Begriff der ,gaya scienza', an jene Einheit von Sänger, Ritter und
Freigeist, mit der sich jene wunderbare Frühkultur der Provengalen gegen
alle zweideutigen Culturen abhebt" (EH FW, KSA 6, 333, 24-334, 3). Hier setzt
er den lyrischen „Anhang" zur Neuausgabe von FW mit dem früheren Zyklus
nahezu gleich, wenn er - fälschlicherweise - behauptet, die sechs, zum Teil
in veränderter Form, übernommenen Gedichte seien „in Sicilien gedichtet"
worden. Der damit verbundene Hinweis auf die „wunderbare Frühkultur der
Provengalen" meint die okzitanische Trobador-Dichtung des Mittelalters. In
formaler Hinsicht sucht man den Bezug zu ihr jedoch vergeblich. Die aus der
Trobador-Dichtung stammende Strophenform der Kanzone, die aus einem Auf-
gesang in zwei sog. Stollen (gleich gebauten Versgruppen) und einem formal
verschiedenen Abgesang besteht, findet sich in IM jedenfalls nicht.
 
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