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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0519
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504 Idyllen aus Messina

Und singe Lied um Lied für mich?
Ein Vogel selber - sicherlich!"
Durch die Streichung dieser Verse spart N. die aus der traditionellen Gleichset-
zung von Vogel und Dichter resultierende poetologische Pointe des Gedichts
für das Ende, genauer: für die beiden letzten Strophen (4 und 5) auf - und
verzichtet zugleich auf einen Refrain, da die letzten beiden Verse in der Vorstu-
fe noch öfters wiederholt werden sollten.
335, 7 Das weisse Meer ist eingeschlafen] Das Bild des „weisse[en] Meer[es]",
das N. später auch im ,Dionysos-Dithyrambus' Die Sonne sinkt verwendet (vgl.
KSA 6, 396, 13), adaptiert eine entsprechende Formulierung aus Goethes Dra-
menfragment Nausikaa von 1787 (vgl. Müller 1995, 78): „Ein weißer Glanz ruht
über Land und Meer" (Goethe 1858, 366). Goethe hatte während seines Sizilien-
Aufenthaltes im Mai 1787 an der Nausikaa gearbeitet. N. verstärkt den schon
bei Goethe vorhandenen Eindruck der Ruhe noch, indem er personifizierend
vom Schlaf des Meeres spricht - wie auch im folgenden Vers vom Schlaf der
Schmerzen.
335, 8 Es schläft mir jedes Weh und Ach] Die Zwillingsformel „Weh und Ach",
die ebenfalls bei Goethe an prominenten Stellen vorkommt - so im Heidenrös-
lein: „Half ihr doch kein Weh und Ach" (Goethe 1855, 13) und im Faust: „ihr
[der ,Weiber'] ewig Weh und Ach" (Goethe 1854, 82) -, steht für den Schmerz,
das Leiden. Das ,Schlafen' des somit von N. personifizierten „Weh und Ach"
deutet auf den biographischen Hintergrund hin: N., der in dieser Zeit immer
wieder von schweren Krankheitsanfällen heimgesucht wurde, erlebte den An-
fang des Jahres 1882 als eine Zeit der Genesung und begab sich nach Messina,
weil er hoffte, das dortige Klima könne den Genesungsprozess weiter beför-
dern. So teilt er seiner Mutter und seiner Schwester am 1. April 1882 kurz nach
der Ankunft auf Sizilien mit: „Hier will ich also den Sommer verleben, ich
muß, nach den schlimmen Erfahrungen der letzten Jahre, den Versuch ma-
chen, am Meere auch im Sommer zu leben. Die Schattenverhältnisse be-
stimmten meine Wahl." (KSB 6/KGB ΙΙΙ/1, Nr. 219, S. 188 f., Z. 11-14). Insbeson-
dere betrachtete N. auch die „Idylle" als Therapeutikum, wie er im Brief an
Franz Overbeck vom 20. Dezember 1882 schreibt: „Ich habe die Idylle nö-
thig - zur Gesundheit." (KSB 6/KGB III/1, Nr. 359, S. 306, Z. 33 f.) Den Idyllen-
Bezug des vorliegenden Gedichts macht N. in der veränderten Fassung stark,
die 1887 im „Anhang" der Fröhlichen Wissenschaft erschien. Dort endet die
zweite Strophe mit den Versen: „Idylle rings, Geblök von Schafen, - / Unschuld
des Südens, nimm mich auf!" (FW Anhang, KSA 3, 641, 18 f.)
335, 9 Vergessen hab' ich Ziel und Hafen] Mit dieser Verszeile, in welcher es in
einer Vorstufe noch heißt: „Fahrt und Hafen" (KSA 14, 229), greift N. erneut
 
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