508 Idyllen aus Messina
lyrischen Produktionen programmatisch als „scherzhaft" verstand. Dies zeigt
sich schon im Titel einiger anakreontischer Gedichtsammlungen wie den
Scherzhaften Liedern nach dem Muster des Anakreon, die Christian Nicolaus
Naumann 1743 publizierte, oder dem ein Jahr später erschienenen Versuch in
scherzhaften Liedern von Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Zu diesem „Scherz-
haften" gehört wesentlich auch der Aspekt der Geselligkeit, den N. in den
Schlussversen - in auffälliger Ähnlichkeit mit einem anakreontischen Jugend-
gedicht Goethes (vgl. NK 336, 3-5) - ebenfalls aufruft. Das Kompositum „Lie-
derspiel" führt beides, „Gesang" und „Scherz", zusammen und kontrastiert mit
dem zuvor genannten ,ernsten Geschäft' der Vernunft: Die Tätigkeit des vogel-
gleichen Dichters erscheint im Gegensatz dazu als leichtes, unverbindliches
Spiel. Merklich klingt hierbei noch Schillers anthropologisch-ästhetisches
Zentralkonzept des „Spieltriebs" nach, wie er es in seinen Briefen Über die
ästhetische Erziehung des Menschen (1795) entwickelt hatte, die N. gut kannte.
Im Abstand einiger Monate zeigte sich N. angesichts der ,scherzhaften Lie-
derspiele' seiner IM tief, ja zu Tränen gerührt. Im Entwurf eines Briefes von
Ende November 1882, der wohl an Lou von Salome gerichtet sein sollte, heißt
es über den Gedicht-Zyklus: „So etwas Junges Anmuthiges Leichtsinniges Tie-
fes Unbeständiges - macht mich weinen." (KSB 6/KGB ΙΙΙ/1, Nr. 336, S. 283, Z.
30 f.)
336, If. Einsam zu denken - das ist weise. / Einsam zu singen - das ist dumm!]
In dieser Verszeile wurde ein Beleg für „spruchhafte und witzige Momente" in
N.s Idyllen gesehen (Meyer 1991, 419). Die notwendige Einsamkeit des Denkers,
die im ersten Teil der sentenziösen Formulierung exponiert wird, ist ein zentra-
les Motiv in N.s Philosophie. In seinen Schriften thematisiert er diese Einsam-
keit, die ja auch sein eigenes Wanderleben durch Europa bestimmte, immer
von Neuem. In der Morgenröthe spricht er von ihr in der auf Aristoteles zurück-
gehenden Begrifflichkeit der „vita contemplativa" und grenzt sie von der
„schwermüthige[n] Einsamkeit" der Entsagenden ab: Wer die „Einsamkeit der
vita contemplativa des Denkers [...] wählt, will [...] keineswegs entsagen; viel-
mehr wäre es ihm Entsagung, Schwermuth, Untergang seiner selbst, in der vita
practica ausharren zu müssen: auf diese verzichtet er, weil er sie kennt, weil
er sich kennt. So springt er in sein Wasser, so gewinnt er seine Heiterkeit."
(Μ 440, KSA 3, 269, 6-12) Die denkerische Einsamkeit ist demnach keine Last,
keine Leidenserfahrung, sondern im Gegenteil die Quelle der spezifischen -
auf das Ideal einer ,fröhlichen Wissenschaft' vorausweisenden - Heiterkeit des
Philosophen. Diese Auffassung wird auch im vorliegenden Gedicht nicht in
Frage gestellt. Das lyrische Ich unterstreicht vielmehr sogar die Weisheit des
einsamen Denkens; allerdings bekennt es sich selbst ja im Zuge seiner (vorü-
bergehenden) Abkehr von der philosophischen „Vernunft" und seiner Hinwen-
lyrischen Produktionen programmatisch als „scherzhaft" verstand. Dies zeigt
sich schon im Titel einiger anakreontischer Gedichtsammlungen wie den
Scherzhaften Liedern nach dem Muster des Anakreon, die Christian Nicolaus
Naumann 1743 publizierte, oder dem ein Jahr später erschienenen Versuch in
scherzhaften Liedern von Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Zu diesem „Scherz-
haften" gehört wesentlich auch der Aspekt der Geselligkeit, den N. in den
Schlussversen - in auffälliger Ähnlichkeit mit einem anakreontischen Jugend-
gedicht Goethes (vgl. NK 336, 3-5) - ebenfalls aufruft. Das Kompositum „Lie-
derspiel" führt beides, „Gesang" und „Scherz", zusammen und kontrastiert mit
dem zuvor genannten ,ernsten Geschäft' der Vernunft: Die Tätigkeit des vogel-
gleichen Dichters erscheint im Gegensatz dazu als leichtes, unverbindliches
Spiel. Merklich klingt hierbei noch Schillers anthropologisch-ästhetisches
Zentralkonzept des „Spieltriebs" nach, wie er es in seinen Briefen Über die
ästhetische Erziehung des Menschen (1795) entwickelt hatte, die N. gut kannte.
Im Abstand einiger Monate zeigte sich N. angesichts der ,scherzhaften Lie-
derspiele' seiner IM tief, ja zu Tränen gerührt. Im Entwurf eines Briefes von
Ende November 1882, der wohl an Lou von Salome gerichtet sein sollte, heißt
es über den Gedicht-Zyklus: „So etwas Junges Anmuthiges Leichtsinniges Tie-
fes Unbeständiges - macht mich weinen." (KSB 6/KGB ΙΙΙ/1, Nr. 336, S. 283, Z.
30 f.)
336, If. Einsam zu denken - das ist weise. / Einsam zu singen - das ist dumm!]
In dieser Verszeile wurde ein Beleg für „spruchhafte und witzige Momente" in
N.s Idyllen gesehen (Meyer 1991, 419). Die notwendige Einsamkeit des Denkers,
die im ersten Teil der sentenziösen Formulierung exponiert wird, ist ein zentra-
les Motiv in N.s Philosophie. In seinen Schriften thematisiert er diese Einsam-
keit, die ja auch sein eigenes Wanderleben durch Europa bestimmte, immer
von Neuem. In der Morgenröthe spricht er von ihr in der auf Aristoteles zurück-
gehenden Begrifflichkeit der „vita contemplativa" und grenzt sie von der
„schwermüthige[n] Einsamkeit" der Entsagenden ab: Wer die „Einsamkeit der
vita contemplativa des Denkers [...] wählt, will [...] keineswegs entsagen; viel-
mehr wäre es ihm Entsagung, Schwermuth, Untergang seiner selbst, in der vita
practica ausharren zu müssen: auf diese verzichtet er, weil er sie kennt, weil
er sich kennt. So springt er in sein Wasser, so gewinnt er seine Heiterkeit."
(Μ 440, KSA 3, 269, 6-12) Die denkerische Einsamkeit ist demnach keine Last,
keine Leidenserfahrung, sondern im Gegenteil die Quelle der spezifischen -
auf das Ideal einer ,fröhlichen Wissenschaft' vorausweisenden - Heiterkeit des
Philosophen. Diese Auffassung wird auch im vorliegenden Gedicht nicht in
Frage gestellt. Das lyrische Ich unterstreicht vielmehr sogar die Weisheit des
einsamen Denkens; allerdings bekennt es sich selbst ja im Zuge seiner (vorü-
bergehenden) Abkehr von der philosophischen „Vernunft" und seiner Hinwen-