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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0543
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528 Idyllen aus Messina

des Hades bringt. Bei N. sind all diese mythischen Implikationen präsent;
wenn es im folgenden Vers heißt: „Schläfrig stiess der Kahn vom Lande" (340,
16), dann assoziiert er unterschwellig Hermes mit Charon.
Das lyrische Ich gelangt im Folgenden mit dem Kahn zwar nicht in die
Unterwelt, wohl aber in eine geheimnisvolle Zwischenwelt. Der Zugang zu ihr
wird durch die Einnahme von Opium („Mohn") eröffnet. In seinem breit rezi-
pierten Buch Confessions of an English Opium-Eater von 1821-1856 verbindet
bereits Thomas De Quincey, der wohl bekannteste Opium-Esser des 19. Jahr-
hunderts, das Opium mit dem Geheimnisvollen. Er spricht von „the mysterious
power of opium" und betont: „For opium is mysterious; mysterious to the ex-
tent, at times, of apparent self-contradiction" (De Quincey 2000, 2, 241). Eine
Lektüre N.s von De Quinceys Buch ist zwar nicht belegt, die im Gedicht folgen-
den Schilderungen der Opium-Wirkung stimmen allerdings fast wörtlich mit
Formulierungen De Quinceys überein. Zu Gemeinsamkeiten zwischen N. und
dem Opium-Esser De Quincey vgl. auch Smitmans-Vajda 1997, 50-55.
340, 17 f. Eine Stunde, leicht auch zwei, / Oder war's ein Jahr?] Verlust des Zeit-
gefühls infolge der Wirkung des Opiums. Auch De Quincey beschreibt ein-
drücklich die massive Beeinflussung des (Raum- und) Zeitgefühls durch Opi-
umkonsum. Er berichtet von einer „vast expansion of time; sometimes I seemed
to have lived for 70 or 100 years in one night" (De Quincey 1867, 84).
340, 18-22 [...] da sanken I Plötzlich mir Sinn und Gedanken I In ein ew'ges
Einerlei, I Und ein Abgrund ohne Schranken I That sich auf] Es handelt sich
weniger um eine „mystische Erfahrung" (Müller 1995, 83), als vielmehr um
deren ,Negativ': Das „ew'ge Einerlei" entspricht nicht der - zu N. ohnehin
schlecht passenden - unio mystica als der Schau des (Göttlich-)Einen, sondern
der eher depressiv gestimmten Vorstellung von Monotonie und Gleichgültig-
keit; der „Abgrund ohne Schranken" lässt sogar an einen ,Horror-Trip' denken.
Thomas De Quincey schildert frappierend ähnliche (beklemmende) Gefühlszu-
stände im Opium-Rausch: „I seemed every night to descend, not metaphorical-
ly, but literally to descend, into chasms and sunless abysses, depths below
depths, from which it seemed hopeless that I could ever reascend." (De Quin-
cey 1867, 84) Nur wenige Monate nach der Entstehung von IM notierte N. im
Herbst 1882: „Das Leere, das Eine, das Unbewegte [...] - das wäre mein Bö-
ses" (NL 1882, 5[1] 212, KSA 10, 211, 14 f.; vgl. ganz ähnlich auch NL 1883, 12[13],
KSA 10, 402) Auch dieses Notat spricht (einmal abgesehen von der darin ent-
haltenen Ablehnung einer Einheits-Metaphysik ä la Parmenides oder Plotin)
kontextuell dafür, dass die Rede vom „ew'gen Einerlei" und schrankenlosen
„Abgrund" in der 3. Strophe des Gedichts nicht harmonisierend als Darstellung
einer ,mystischen' Einsicht zu lesen ist, sondern vielmehr als die einer zutiefst
melancholischen Erfahrung.
 
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