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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0544
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Stellenkommentar Pia, caritatevole, amorosissima, KSA 3, S. 340 529

340, 22 [...] - da war's vorbei! -] Es stellt sich die Frage, was denn eigentlich
vorbei war, und diese Frage ist nicht eindeutig zu beantworten. War ,es‘ die
Schlaflosigkeit, die Zeitdehnung, der Abgrund oder noch etwas anderes? Diese
Uneindeutigkeit trägt erheblich zum rätselhaften Charakter des Textes bei, der
in der Forschung schon wiederholt betont worden ist (vgl. etwa NLex 153).
340, 25 f. Was geschah? so riefs, so riefen I Hundert bald - was gab es? Blut?]
In der Fiktion des Gedichts erscheinen am Morgen nach der ,geheimnisvollen
Nacht' Menschen am Strand, die angesichts des auf dem Meer schaukelnden
Kahns eine Bluttat vermuten. Das Zahlwort „Hundert" dürfte dabei als Hyper-
bel zu werten sein. Im Druckmanuskript hieß es noch statt „bald - was gab
es? Blut?": „Kähne eilen durch die Fluth".
340, 27 f. [...] Wir schliefen, schliefen / Alle - ach, so gut! so gut!] Der Bezug
dieses Gedichtschlusses ist aufgrund fehlender Anführungszeichen oder In-
quit-Formeln nicht eindeutig; die Frage nach der Sprecherinstanz, die sich hin-
ter dem lyrischen „Wir" verbirgt, lässt sich nicht leicht beantworten. Nahelie-
gend erscheint jedoch, dass die letzte Verszeile als Antwort des lyrischen Ichs
auf die zuvor genannte Frage der „Hundert" zu verstehen ist: Das „Wir" sagen-
de lyrische Ich wiegelt ab; es versucht, die aufgebrachte Menschenmenge, in
welche es sich rhetorisch integriert, zu beschwichtigen, verschweigt seinen
Blick in den schrankenlosen „Abgrund" und betont lediglich den „guten"
Schlaf, den es wie „Alle" genossen habe. Diese Behauptung mutet jedoch we-
nig glaubwürdig an: Die ,seufzende' Interjektion „ach" und die intensivierende
Wiederholung „so gut! so gut!" deuten eher auf eine (Auto-)Suggestion hin.
„Pia, caritatevole, amorosissima". (Auf dem campo santo.)
Auch dieses Gedicht, das die Strophenform von Die kleine Hexe wieder auf-
greift, lässt den ironischen und parodistisch-satirischen Ton der vorigen Ge-
dichte hinter sich und geht stattdessen ins Pathetisch-Melancholische, ja ins
Sentimentale über. Wenn N., „begehrlich nach der italiänischen ,Sentimentali-
tät'", am 16. September 1882 an Köselitz schreibt: „In Messina [...] verstand ich,
daß ohne jene 3, 4 Thränen man die Heiterkeit nicht lange aushält", so zeigt
sich gerade mit Blick auf das vorliegende Gedicht, dass die IM in der Tat „nach
diesem Recepte componirt" wurden (KSB 6/KGB ΙΙΙ/1, Nr. 307, S. 262, Z. 41-44).
Vieles spricht allerdings dafür, dass (auch) dieses Gedicht nicht auf Sizilien,
sondern bereits zuvor in Genua entstanden ist. Wie Die kleine Brigg, genannt
„das Engelchen" übernahm N. „Pia, caritatevole, amorosissima" ebenfalls nicht
in die spätere Sammlung Lieder des Prinzen Vogelfrei, die er der zweiten Ausga-
be der Fröhlichen Wissenschaft beifügte. In der Logik der Gedicht-Fiktion befin-
 
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