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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0549
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534 Idyllen aus Messina

weist sich auch hier die ,Sentimentalität' als Ingrediens der ,heroischen Idylle',
deren Kompositionsprinzip in der Verbindung von „Heiterkeit" und „Thränen"
besteht (KSB 6/KGB ΙΙΙ/1, Nr. 307, S. 262, Z. 43 f.).
Wie im Überblickskommentar schon erwähnt, ist die motivische Parallele
zu Baudelaires poetologischem Gedicht L'Albatros aus dessen Fleurs du mal
auffällig, obwohl nicht mit Gewissheit davon ausgegangen werden kann, dass
N. es zum Zeitpunkt der Niederschrift seines Gedichts bereits kannte. Zwar hat-
te er für seine persönliche Bibliothek die bereits 1882 in Paris erschienene Aus-
gabe Les fleurs du mal. Precedees d'une notice par Theophile Gautier. Nouvelle
edition (NPB 131 f.) erworben. N.s früheste Erwähnung Baudelaires stammt al-
lerdings erst vom Frühjahr 1884. Wolfram Groddeck argumentiert mit guten
Gründen dafür, den Beginn der Beschäftigung N.s mit Baudelaires Gedichten,
vermittelt durch die Rezeption Paul Bourgets, „auf Ende 1883" zu datieren
(Groddeck 1991a, 2, 430). Nur mittels eines auf die vergleichende Deutung von
Baudelaires L'Albatros und N.s Vogel Albatross gestützten ,Indizienbeweises'
könnte man den Beginn von N.s Baudelaire-Lektüre noch weiter zurückdatie-
ren, wie dies einige Interpreten in jüngerer Zeit stillschweigend tun (vgl. NH
153; Henne 2010, 20; Görner 2000, 334 f., spricht vorsichtiger von einer
„(Wahl-)Verwandtschaft zur Albatros-Metapher in Baudelaires gleichnamigem
Gedicht"). Auf Baudelaires Gedicht könnte N. allenfalls bereits durch Maxime
du Camps Souvenirs litteraires aufmerksam geworden sein, deren 9. Teil in der
März/April 1882-Nummer der von N. (regelmäßig?) gelesenen Revue des deux
mondes erschienen war; dort ist auf S. 744 von L'Albatros die Rede. N.s Gedicht
wirkt wie eine - vergleichsweise konventionelle (vgl. Pfotenhauer 1985, 188) -
Kontrafaktur von Baudelaires Text: Während dieser schildert, wie der von
Schiffsleuten gefangene Albatros, der sich sonst majestätisch und frei in der
Luft bewegt, an Deck plump und hilflos wirkt (womit abschließend die Situa-
tion des Dichters in einer prosaischen Realität verglichen wird), gestaltet N. in
seinem Gedicht das siegreiche Schweben des ,heroischen' Albatros in jenen
höchsten Höhen, in die sich auch das Dichter-Ich sehnt.
Zu dem Gedicht existiert eine Vorstufe, in der es noch unter dem Titel Der
Siegreiche und in anderer Strophen- und Versform vom lyrischen Ich selbst
heißt:
„Der Himmel trägt mich doch
Noch darf mein Flügel ruhn!
Wie ward! Jüngst flog ich doch?
Und hier verlerne ich's nun
Ich ruh' und schwebe doch
Wie darf mein Flügel ruhn?" (KSA 14, 230)
 
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