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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0557
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542 Idyllen aus Messina

342, 19 Silb' um Silb' ihr Hopsa sprang] Die kindersprachlich-lautmalerische
Interjektion „Hopsa" oder „Hopsasa" (verstärkte Imperativform von ,hopsen' =
,springen', ,hüpfen') verwendet N. in den Achtzigerjahren mehrfach zur (he-
rabwertenden) Bezeichnung versgebundener Rede. So schreibt er etwa mit
dichtungskritischem Unterton wiederum in FW 84 über die suggestive Wirkung
der metrischen Form, die in menschheitsgeschichtlichen Frühzuständen den
Anspruch auf Wahrheit vertrat: „noch jetzt, nach Jahrtausende langer Arbeit
in der Bekämpfung solchen Aberglaubens, wird auch der Weiseste von uns
gelegentlich zum Narren des Rhythmus, sei es auch nur darin, dass er einen
Gedanken als wahrer empfindet, wenn er eine metrische Form hat und
mit einem göttlichen Hopsasa daher kommt." (KSA 3, 442, 12-18) Zum „Narren
des Rhythmus" wird so auch das lyrische Ich in Vogel-Urtheil.
342, 22 f. [...] Du ein Dichter? I Stehts mit deinem Kopf so schlecht?] Die Entge-
gensetzung von Dichtung und „Kopf" weist zurück auf die bereits im Eingangs-
gedicht formulierte Opposition von Poesie und „Vernunft". Hatte sich dort al-
lerdings das lyrische Ich ausdrücklich gegen letztere ausgesprochen, da sie als
„bös Geschäfte" die „Zunge" hemme (335, 17 f.), so kommen nun, am Ende des
Zyklus, umgekehrt Bedenken angesichts des ,kopflosen' Dichtertums auf. Diese
doppelläufige Wertung entspricht dem ambivalenten Verhältnis, das N. selbst
gegenüber der Dichtung einnahm. Einerseits begriff er den Dichter als schöpfe-
rischen Menschen und stellte ihn dem Denker als ebenbürtig zur Seite. Ande-
rerseits warf er ihm aber auch - in gut platonischer Tradition - lügnerische
Wahrheitsferne vor und ordnete ihn in dieser Hinsicht dem Denker unter. Ins-
besondere spricht N. dem Dichter die Fähigkeit zur Hervorbringung echter Ge-
danken ab, so etwa in MA I 189: „Der Dichter führt seine Gedanken festlich
daher, auf dem Wagen des Rhythmus': gewöhnlich desshalb, weil diese zu
Fuss nicht gehen können." Später assoziierte N. den zur Wahrheit und zum
Denken unfähigen Dichter mit der Gestalt des Narren. Im vierten Teil des Zara-
thustra (1885), findet sich im Kapitel „Lied der Schwermuth" ein Gedicht, das
(in leicht veränderter Gestalt) auch die Dionysos-Dithyramben eröffnet; in ihm
heißt es wiederholt: „Nur Narr! Nur Dichter!" (Zarathustra III, KSA 4, 372, 4)
Letztlich kommt hierin N.s Selbstzweifel angesichts der eigenen Rolle als ,Dich-
ter-Philosoph' zum Ausdruck.
342, 24 f. „[...] Sie sind ein Dichter!" I - Also sprach der Vogel Specht.] Erst von
den Schlussversen her erhält der Gedichttitel seinen Sinn; der „Vogel Specht"
bejaht die selbstadressierte Frage des lyrischen Ichs und verurteilt es gleich-
sam zum - von diesem selbst kritisch gesehenen - Dichter-Sein. Anders als
etwa die Taube, die Lerche, der Adler oder auch der Albatros ist der Specht
zwar kein traditioneller Dichtervogel, doch galten Spechte in der Antike als
 
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