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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Contr.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0028
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Überblickskommentar 5

Wiederholt ist die Rede von den „Wunder[n] des schönen Januarius" (an Köse-
litz, 29. 01. 1882, KSB 6/KGB III 1, Nr. 191, S. 161, Z. 20; fast wortgleich am selben
Tag an Overbeck, KSB 6/KGB III 1, Nr. 192, S. 163, Z. 52 f.), von „diesem schöns-
ten aller Januare" (an Franziska Nietzsche, 30. 01. 1882; KSB 6/KGB III 1,
Nr. 194, S. 164, Z. 13 f.) sowie davon, dass dieser „Januar [...] der schönste mei-
nes Lebens" sei (an Köselitz, 25. 01. 1882, KSB 6/KGB III 1, Nr. 190, S. 160, Z. 62).
Diese Hochstimmung ergab sich nicht zuletzt aus einem zwischenzeitlichen
Nachlassen der Krankheitssymptome, über die N. kurz zuvor noch geklagt hat-
te. So berichtet er im Brief an seine Mutter und Schwester vom 28. Dezember
1881 von einem „der allerheftigsten Anfälle, der mich nachdenken gemacht
hat" (KSB 6/KGB III 1, Nr. 183, S. 152, Z. 2f.), und noch die Postkarte an seine
Schwester Elisabeth vom 8. Januar schließt mit dem Satz: „Ich bin wieder
krank gewesen." (KSB 6/KGB III 1, Nr. 186, S. 155, Z. 19) In den Tagen darauf
besserte sich sein Gesundheitszustand ausweislich der Briefe jedoch merklich,
N. genoss das milde, sonnige Wetter in Genua, das er als „einen solchen ,Früh-
ling"' (an Overbeck, 29. 01. 1882, KSB 6/KGB III 1, Nr. 192, S. 163, Z. 51 f.) pries,
und arbeitete aller Wahrscheinlichkeit nach in diesem Monat bereits an der
Arrangierung des ,9. Buchs', das ihm besonders wichtig werden sollte.
So erweist sich N.s spätere Aussage im Brief an Hippolyte Taine vom 4. Juli
1887, er „verdanke" die Erstausgabe von FW „den ersten Sonnenblicken der
wiederkehrenden Gesundheit: es [das Werk] entstand [...] in Genua, in ein paar
sublimklaren und sonnigen Januarwochen" (KSB 8/KGB III 5, Nr. 872, S. 107,
Z. 43-46), als nachträgliche Selbststilisierung. Ältere Vorarbeiten zu den ein-
zelnen Abschnitten von „Sanctus Januarius" stammen ja, wie ein Blick in die
Manuskripte zeigt, bereits aus der zweiten Jahreshälfte von 1881, und N. arbei-
tete noch bis zur Publikation im Sommer 1882 kontinuierlich weiter am Text
der Erstausgabe von FW. Ein weiterer späterer Reflex auf jenen in physischer,
klimatischer und schöpferischer Hinsicht ,schönsten Januar' findet sich übri-
gens noch in der ,Genesungs'- und ,Tauwind'-Metaphorik der Vorrede zur zwei-
ten Ausgabe von FW (1887). Die körperliche ,Genesung' war jedoch nicht von
langer Dauer: Schon im Schreiben an Overbeck vom 14. Februar 1882 klagt N.
wieder über „immer sich ablösende Anfälle" (KSB 6/KGB III 1, Nr. 198, S. 170,
Z. 2).
Aus dem Gesagten lässt sich der Schluss ziehen, dass N. die im Januar 1882
schon längst vorangetriebene, wenngleich noch nicht abgeschlossene Arbeit
am ,9. Buch' (FW IV) bewusst verschwieg, um die Aufmerksamkeit seiner
Freunde, die auch fast seine einzigen Leser waren, auf dieses Buch zu lenken.
Es handelt sich höchstwahrscheinlich um eine kalkulierte Verzögerungsstrate-
gie, die einen Überraschungseffekt bewirken sollte, als der zwar groß angekün-
digte, aber angeblich erst viel später fertigzustellende Werkabschnitt dann
 
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