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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0050
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Überblickskommentar 27

19. Jahrhunderts eine ,Literarisierung' und damit verbundene literarästhetische
Aufwertung des Aphorismus-Begriffs, die durch die zeitgenössischen „deut-
schen Poetiken und Literaturgeschichten" belegt ist, wenn es sich hierbei auch
nur um ,,[v]ereinzelte, tastende, unsichere Versuche der Begriffsverwendung"
handeln mag (Spicker 1997, 96). Die ältere, „engere" Bedeutung von „Aphoris-
mus" im Sinn einer abbreviatorischen, aber systematisch-wissenschaftlichen
Darstellung (die in Meyer 1885-1892, 1, 677 f. noch immer Erwähnung findet)
fällt jedenfalls in der zeitgleich mit der Erstausgabe von FW erschienenen
13. Auflage des Brockhaus ersatzlos weg, wo nur noch knapp der jüngere, ,all-
gemeinere' Wortgebrauch wiedergegeben wird. Der ganze Eintrag zum Lemma
„Aphorismen" lautet nun: „kurze, unverbundene und in prägnanter Form ge-
haltene Sätze; aphoristische Schreib- oder Sprechart, die abgebro-
chene, gedrungene Ausdrucksweise." (Brockhaus 1882-1887, 1, 756) In der
14. Auflage wird nach einem Vierteljahrhundert noch inhaltlich ergänzt: „Sinn-
sprüche", und es folgt eine Auflistung gattungsprägender deutscher Autoren,
zu denen nun schon N. selbst gehört: „Von hervorragenden deutschen Verfas-
sern von A[phorismen] sind besonders zu nennen: Goethe (,Sprüche in Prosa'),
G. Ch. Lichtenberg, Fr. Nietzsche, Marie von Ebner-Eschenbach." (Brockhaus
1908, 1, 736) Laut Friedemann Spicker reflektiert dies „einen entscheidenden
Neuansatz" in der Begriffsbestimmung des Aphorismus in den Jahrzehnten um
1900, insofern „sich hier die Gattung ihrer Geschichte vergewissert und damit
auf der Ebene des Konversationslexikons genau das Gattungsbewusstsein in
statu nascendi abgebildet wird, das die zeitgenössische Literatur nahelegt und
das die Literaturwissenschaft zögernd entwickelt" (Spicker 1997, 262).
Bei näherem Hinsehen erweist sich auch diese ,innovative' Gattungsbe-
stimmung bzw. die auf sie gemünzte Rede von N.s ,Aphorismen' allerdings
ebenfalls als problematisch. Denn ,kurze, unverbundene Sätze', wie sie noch
um und nach 1900 als primäres Kriterium der Gattungszugehörigkeit gelten,
sind N.s ,Aphorismen' allenfalls zum geringeren Teil. Wenngleich seine ,Apho-
rismenbücher' einerseits tatsächlich prägnante Kurztexte enthalten, die zum
Teil sogar nur, wie gegen Ende von FW III, aus einem Satz oder wenigen Zeilen
bestehen, gibt es darin andererseits auch etliche Abschnitte, die sich regelrecht
zu Kurzessays auszuwachsen scheinen und bis zu vier oder fünf Druckseiten
umfassen; sehr lange Sätze mit komplexer hypotaktischer Struktur sind dabei
keine Seltenheit. Daher erscheint eine pauschale Zuordnung von N.s Werken
zu der so definierten Gattung keineswegs evident, was denn auch schon früh
zu diesbezüglichen Zweifeln in der literaturwissenschaftlichen Aphorismus-
Forschung führte. Vor diesem Hintergrund konnte Franz Η. Mautner in seinem
richtungsweisenden Aufsatz Der Aphorismus als literarische Gattung von 1933,
in dem er der „scheinbaren Sicherheit, die Nachschlagewerken so oft eigen ist"
 
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