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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0056
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Überblickskommentar 33

FW wie auch in seinen benachbarten Werken die kunstvolle rhetorische
Sprachgestalt seiner Prosatexte immer wieder ostentativ und selbstreflexiv in
den Vordergrund. Das lässt seine Schreibweise seltsam unzeitgemäß erschei-
nen. Indem sie auf den Eigenwert der sprachlichen Form, der Bilder und des
Klangs setzt, unterscheidet sie sich markant sowohl von den literarischen als
auch von den philosophischen Schreibstilen der Zeit; sie zielt oft auf Konnota-
tion und Assoziation statt auf Klarheit und Präzision.
Die Literarizität von N.s ,Aphorismen' reicht über den ,poetischen' Schreib-
stil aber noch hinaus; sie betrifft auch den ,philosophischen' Denkstil. Es wur-
de bereits darauf hingewiesen, dass N. in FW keine kohärenten Theorien oder
Lehren entwickelt, sondern immer wieder neu ansetzende Betrachtungen über
verschiedene Themen und Gegenstände präsentiert, die unterschiedliche Per-
spektiven experimentell erproben und dabei nicht selten zu einander wider-
sprechenden Resultaten gelangen. Karl Jaspers meinte sogar generalisieren zu
dürfen: „Das Sichwidersprechen ist der Grundzug Nietzscheschen Denkens"
(Jaspers 1936, 8), um im Anschluss zu beklagen, dass sich Vertreter unter-
schiedlichster Weltanschauungen bei N. bedienen und herausklauben, was ih-
nen gerade passt. Kurt Tucholsky hatte im Hinblick auf diese zweifelhafte, se-
lektive Rezeptionspraxis schon einige Jahre davor das bekannten Diktum
geprägt: „Sage mir, was du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat
besorgen." (Tucholsky 2011, 19) Wichtig ist allerdings zu sehen, dass es sich
bei der eigentümlichen Selbstwidersprüchlichkeit von N.s Denken nicht nur
um ein ko- bzw. intertextuelles Phänomen handelt, wonach die in einem Ab-
schnitt vertretene Sichtweise derjenigen anderer Texte im selben Werk oder in
anderen Werken desselben Autors widerspricht (vgl. Pütz 1967, 17-22 und
Schmidt 2004, 2, 131-133), sondern oft zumal um ein intratextuelles Phänomen
in dem Sinne, dass schon ein und derselbe Abschnitt bei näherem Hinsehen
gar keine stringente und konsistente Argumentation entfaltet. Vielmehr weisen
die Texte häufig genug argumentationslogische Brüche und Unstimmigkeiten
auf, obwohl sie Evidenz suggerieren oder gar in offensiven Leseransprachen
Einverständnis heischen. In etliche Gedankengegänge werden derart viele hy-
pothetische Voraussetzungen, Bedingungen und Einschränkungen eingefloch-
ten, dass dies jeden festen Aussagegehalt unterminiert. Je genauer man liest,
desto mehr Fragen werfen viele Texte N.s nur auf.
Eine übergeordnete, grundsätzliche Frage lautet dabei, wer in den Tex-
ten - und so auch in FW - überhaupt spricht, und zwar nicht nur in jenen
Kurztexten, die als Dialoge oder (parabolische) Erzählungen ohne Umschweife
als fiktional einzustufen sind, sondern auch in den übrigen, in denen oftmals
ein auktoriales „Ich" oder „Wir" spricht, das viele Leser auf den ersten Blick
mit N. gleichzusetzen geneigt sind. Während man mit Blick auf Za früher gern
 
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